«Es ist nie zu spät, die eigene Beweglichkeit zu trainieren!» Das sagt einer, der es wissen muss: Der 24-jährige Emir ist Tanzakrobat und tritt im aktuellen Programm des Zirkus Knie auf. In einer Stunde beginnt die Nachmittagsvorstellung. Jetzt wärmt er sich auf, vor einem Garderobenwagen.
Kollegin Victoriia, in perfektem Spagat, stimmt zu. Sie empfiehlt spontan eine tägliche Übung: die «Katze», geht in den Vierfüsslerstand und bewegt ihre Wirbelsäule beeindruckend nach oben und unten.
Ein Fest der Beweglichkeit
Die Zirkus-Vorstellung ist dann ein Fest der Beweglichkeit. Das Publikum staunt – und hinterfragt sich selbst: «Wenn ich die Zirkusleute anschaue, komme ich mir komplett unbeweglich vor», so die Reaktion einer Besucherin in der Pause.
Geboren wird man nicht unbeweglich!
Wer sich mit den Profis vergleicht, könnte den Mut verlieren. Oder meinen, gute Beweglichkeit sei angeboren, bestimmt durch den Körperbau. Aber: «Geboren wird man nicht unbeweglich», wischt Sportstudentin Nadine Engeler schöne Ausreden weg.
Es ist offenbar vielmehr so, dass die anfangs gute Beweglichkeit einfach schwindet, wenn man sie nicht benutzt. Einschränkend ist dabei meistens eine zu wenig genutzte Muskulatur. Das Gute dabei: Die Muskelflexibilität lässt sich verbessern.
Beweglichkeit braucht's im Alltag
Während in manchen Sportarten, im Ballett oder im Zirkus, grösste Beweglichkeit eine Bedingung ist, genügen für den Alltag bescheidenere Ziele.
Nicht jeder muss den Spagat schaffen.
Der Basler Sportwissenschaftler Oliver Faude umreisst es so: «Es ist erstrebenswert, sich im Körper wohl zu fühlen und alltagstauglich zu bleiben, auch im Alter. Aber nicht jeder muss den Spagat schaffen.»
Ein sinnvolles Ziel ist hingegen, sich rückenschonend beugen zu können, oder auch im Alter fähig zu sein, seine Socken anzuziehen. Leider schenkt man dem Thema Beweglichkeit oft erst dann Beachtung, wenn sie eingeschränkt ist. Zum Beispiel durch eine Verspannung.
Wie beweglich sollten wir sein?
Manche Zirkusbesucherinnen und -besucher wollen es wissen: Sie machen einen Beweglichkeitstest. Ein sportwissenschaftliches Zweier-Team hat beim Zirkus-Eingang eine Liege aufgestellt. Ralf Roth und Nadine Engeler haben es auf die hintere Oberschenkelmuskulatur abgesehen.
Sie studiert Sport und Physiotherapie, er ist Dozent für Sportwissenschaften an der Universität Basel. Ein unbestechlicher Winkelmesser schafft Fakten.
Der 52-jährige Martin legt sich auf die Liege. Das Fachteam drückt sein durchgestrecktes Bein nach oben. Bei 74 Grad Beugung ist die Schmerzgrenze erreicht. Der Messwert liegt nur knapp unter dem grünen Bereich von 80 bis 90 Grad, also einem rechten Winkel.
Diese Beugung zu schaffen, ist schwieriger, als man denken würde, das Ergebnis nicht schlecht. Doch eine ältere Besucherin, die 56-jährige Dora, glänzt mit einer 130 Grad-Beugung.
Beweglichkeitstraining funktioniert in jedem Alter
Doras Geheimnis ist regelmässiges, intensives Yoga-Training, das sie seit Jahrzehnten pflegt. Vom sehr guten Messresultat ist das Fachteam nicht überrascht, die 56-Jährige macht vieles richtig:
- Sie bewegt sich mehrmals pro Woche.
- Ihr Training umfasst entspannende wie auch kräftigende Übungen.
- Sie respektiert dabei ihre Schmerzgrenze.
Sportwissenschaftler Ralf Roth erklärt: «Es reicht in der Regel, dass man 20 Prozent unter der maximalen Beweglichkeit bleibt, und trotzdem wird man besser.» Und er betont, dass das Alter kein limitierender Faktor sein muss für die Beweglichkeit. Entscheidend sei, was man macht.
Verspannungen – Gegenteil guter Beweglichkeit
Zu wenig Beweglichkeit kann zu schmerzhaften Verspannungen führen. Oft sind sie das Resultat von zu wenig Bewegung und plagen besonders häufig Menschen, die stundenlang am Computer arbeiten. Dies ist auch bei Aline Dünner der Fall.
«Mein Nacken ist wie ein Block, die Muskeln sind hart, unbeweglich, einfach verspannt.» – Aline Dünner widmet sich nun wohl oder übel den Folgen ihrer einseitigen Haltung bei der Büroarbeit.
Die Verspannungspatientin ist ein typischer Fall für Martina Nussbaumer. Die Sportphysiotherapeutin der Schulthess Klinik erklärt, dass unser Körper mit Verspannungen reagiert, wenn wir falsch mit ihm umgehen.
Die Gründe für Muskelverhärtungen sind vielfältig:
- Allgemeiner Bewegungsmangel
- Starre Haltungen
- Einseitige Belastung
- Emotionaler Stress
Die Folgen: Betroffene Muskelpartien werden schlechter durchblutet, bekommen weniger Nährstoffe und Sauerstoff, verspannen sich und schmerzen. Anstatt sich dann mehr zu bewegen, was Verspannungen zu lösen hilft, gehen Betroffene oft in Schonhaltungen.
Ein schwacher Muskel ist ein Muskel, der zu Verspannungen neigt.
Das sei ungünstig, betont die Physiotherapeutin: «Ein schwacher Muskel ist ein Muskel, der zu Verspannungen neigt.» Darum kommt mit einer Verspannung oft ein Teufelskreis in Gang, der das Problem nur noch schlimmer macht.
Zur Physiotherapeutin kommen Betroffene oft mit hohen Erwartungen. Sie möchten sich ihre Beschwerden am liebsten wegmassieren lassen. Doch gefragt sind Eigeninitiative und Körperarbeit.
Eigentlich ist es simpel, und man braucht gar nicht so viel Zeit.
Das klingt schlimmer, als es ist, findet Patientin Aline Dünner: «Eigentlich ist es simpel, und man braucht gar nicht so viel Zeit.» Sie trainiert inzwischen mit Hanteln, um die Muskulatur der Rücken- und Nackenregion zu kräftigen.
Verspannungen vorbeugen
Um die nächste Verspannung zu vermeiden, sollte man sich mit den Ursachen auseinandersetzen. Das kann heissen: den Arbeitsplatz anders einzurichten, psychischen Stress zu verringern und Kraft aufzubauen.
Das ist auch im Sinn von Sportwissenschaftler Ralf Roth, denn ihm fällt auf: «Viele Leute denken, sie lösen das Problem mit Stretching.» Die Lösung liegt aber im Haltungsaufbau.
Zauberformel: bewegen & kräftigen kombinieren
Die Nachmittagsvorstellung im Zirkus Knie ist zu Ende. Die vielen Messungen und Gespräche haben Dozent Ralf Roth und Studentin Nadine Engeler wieder einmal gezeigt, worauf es grundsätzlich ankommt, wenn der Körper flexibel bleiben soll: «Im Prinzip ist es einfach: Bewegung macht beweglich.»
Natürlich spielen weitere Faktoren eine Rolle: Wer sich einseitig bewegt, vielleicht sehr viel Fahrrad fährt, mag zwar topfit sein – und trotzdem lässt die Beweglichkeit zu wünschen übrig. Ähnlich beim Stretching ohne Muskelarbeit: Es tut gut, macht flexibler, aber dem Muskel kann es an Kraft fehlen.
Allen, die durch körperliche Aktivität beweglicher werden möchten, legt Sportwissenschaftler Ralf Roth deshalb einen abschliessenden Rat ans Herz: «Beweglichkeits- mit Kräftigungsübungen kombinieren – das ist unsere Zauberformel.» Denn in der Sportwissenschaft von heute gehören Kraft und Flexibilität zusammen.
Wer gleich starten möchte mit seinem Beweglichkeitstraining: Ralf Roth und Nadine Engeler zeigen im nachfolgenden Video einen ganzen Strauss geeigneter Übungen.