Über 80 Seiten sind die Guidelines dick, die Ärzte abarbeiten müssen, wenn sie akribisch beim Fällen einer ADHS-Diagnose vorgehen. Fasst man deren Inhalt zusammen, muss eine Abklärung folgende Punkte beinhalten:
- Anamnese und standardisierte Interviews und Beobachtungen: Gespräche mit den Eltern, Lehrern und dem Kind; Beobachtungen abfragen, aber sich auch selbst einen Eindruck verschaffen über das Verhalten des Kinds.
- Umfangreiche Fragebögen: Mithilfe von Fragebögen (ausgefüllt vom Kind, Eltern und Lehrern) und Beurteilungsskalen die Symptome für ADHS herausfiltern; psychologische Tests sowie Hirnleistungstests wie IQ-Test, um den Intelligenzquotienten zu testen.
- Psychosoziale Ursachen klären: Stressoren wie Scheidung der Eltern, Migration, Mobbing können zu ADHS-ähnlichen Symptomen führen oder den Schweregrad verstärken.
- Körperliche und somatische Untersuchungen: Die körperliche Untersuchung klärt, ob das Kind gesund ist, zum Beispiel gut hört, das Blutbild in Ordnung ist oder die Schilddrüse richtig funktioniert.
- Differentialdiagnose: Alle anderen Arten von Krankheiten müssen ausgeschlossen werden.
Schnell wird klar: Eine ADHS-Abklärung geschieht nicht in 15 Minuten. Die Neuropsychologin Prisca Zulauf fasst die wichtigsten Punkte zusammen:
Zunahme ADHS?
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Auswertungen von Krankenversicherungsdaten zeigen, dass immer mehr Kinder Methylphenidat, wie es auch in Ritalin enthalten ist, verschrieben bekommen – Knaben häufiger als Mädchen. Im Jahr 2008 waren es insgesamt 140‘000 Kinder in den ersten 18 Lebensjahren. Der Anstieg von 2005 bis 2008 beträgt 40 Prozent. Besonders häufig schlucken 11- bis 12-Jährige das Psychopharmakon – genau dann, wenn es um den Oberstufenübertritt geht.
Eine deutsche Studie mit Beteiligung der Universität Basel stellte die Frage, warum dem so ist. Wird ADHS inzwischen zu häufig bzw. falsch diagnostiziert? In der Tat zeigte sich: Psychotherapeuten und Psychiater für Kinder und Jugendliche fällen ihr Urteil offensichtlich eher anhand von Faustregeln («Heuristiken»), statt sich eng an den gültigen Diagnosekatalog zu halten. Insbesondere bei Jungen stellen sie deutlich mehr Fehldiagnosen als bei Mädchen.
Befragt haben die Forscher insgesamt 1000 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater in Deutschland. 473 nahmen an der Befragung teil. Sie erhielten je eine von vier unterschiedlichen Fallgeschichten. Sie sollten eine Diagnose stellen und eine Therapie vorschlagen. In drei der vier Fälle lag anhand der geschilderten Symptome und Umstände kein ADHS vor, nur ein Fall war mit Hilfe der geltenden Leitlinien und Kriterien eindeutig als Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung diagnostizierbar. Da die Forscher auch noch das Geschlecht der «Patienten» variierten, wurden insgesamt acht verschiedene Fälle beurteilt. Daraus ergab sich bei je zwei gleichen Fallgeschichten ein deutlicher Unterschied in der Diagnose: Leon hat ADHS, Lea nicht – bei identischer «Fallschilderung».
Allerdings: Die Kinder- und Jugendpsychotherapeuten mussten die Diagnose anhand abstrahierter und isolierter Verhaltensmerkmale beurteilen. Sie hatten also keine Kinder direkt vor sich mit einer eigenen Geschichte und mit je individuellen psychosozialen Rahmenbedingungen.