Die Situation in der Lombardei in Norditalien ist alarmierend: Über 20'000 Infizierte, darunter mehr als 9'000 Menschen zu Hause in Selbstisolation, über 1'600 Patienten in den Intensivstationen. Überfüllte Intensivstationen, reihenweise beatmete Patienten.
Ärztinnen und Ärzte appellieren an Kollegen, bitten um Hilfe und ermahnen die Menschen, zu Hause zu bleiben. Das Spitalpersonal arbeitet bis zur totalen Erschöpfung. Trotzdem stösst es seit Tagen an seine Grenzen. Italiens Gesundheitssystem ist überfordert. Das Drama könnte auch uns blühen. Intensivmediziner Giacomo Grasselli gibt einen Einblick.
SRF News: Wie ist die aktuelle Situation vor Ort? Bekommen noch alle Patienten, eine intensivmedizinische Behandlung, die eine benötigen?
Giacomo Grasselli: Bis heute konnten wir noch für alle Patienten, die es brauchten, ein Bett in der Intensivstation finden und ihnen Beatmungsgeräte geben. Aber die Situation ist kritisch. Wir stehen unter grossem Druck, denn die Patientenzahlen steigen noch an. Unsere Kapazitäten sind aber ausgereizt.
Wir hatten in der Lombardei zu Beginn etwa 800 Intensiv-Betten. In den letzten drei Wochen haben wir aber in unseren Intensiv-Abteilungen insgesamt 1200 Patienten behandelt. Manche sind bereits entlassen, andere sind gestorben. Aber wir haben im Moment immer noch etwa 970 Patientenauf den Stationen, sind also weit über den Kapazitäten.
Die Situation ist kritisch. Wir stehen unter grossem Druck, denn die Patientenzahlen steigen noch an.
Was würden Sie denn der Schweiz raten zu tun? Wir haben ja ähnliche Kapazitäten und Standards, wie die Lombardei, als alles begann.
Das Wichtigste ist es, bereit zu sein, dass sich das Virus weiter ausbreitet. Wichtig ist, die Intensiv-Betten-Kapazität hochzufahren. In jedem Spital Intensiv-Betten zu finden, wo man die Patienten isolieren kann.
Und dann muss man das Personal trainieren, wie die ganze Schutzausrüstung zu benützen ist. Das ist extrem wichtig.
War das ein Problem bei Ihnen? Kam es zu Ansteckungen im Gesundheitspersonal?
Ja natürlich, wie überall auf der Welt. Dieses Virus trifft leicht auch jene die im Gesundheitswesen arbeiten. Die Todesrate ist zwar viel tiefer im Gesundheitswesen als in der allgemeinen Bevölkerung, aber wenn viele angesteckt werden, fallen sie auf den Intensivstationen aus.
Gibt es auch immer mehr jüngere Patienten?
In den ersten 10 Tagen sahen wir vor allem alte Menschen auf den Intensivstationen. Jetzt sehen wir solche, die in den Achtziger- oder Siebzigerjahren geboren wurden. Also 30 bis 50-jährige.
In den Intensivstationen sehen wir jetzt auch solche, die in den Achtziger- oder Siebzigerjahren geboren wurden.
Hatten sie zuvor denn Gesundheitsprobleme?
Nein, die Jungen hatten vorher keine Gesundheitsprobleme. Wir haben zwar noch keine genauen Daten, das sind einfach Beobachtungen. Aber die meisten sind männlich. Übergewicht und Bluthochdruck sind verbreitet.
Wie geht es den Ärzten und Pflegepersonen? Sie stehen seit Wochen unter einem immensen Druck. Können Sie noch weitermachen?
Wir müssen. Wir haben gar keine Wahl. Es ist extrem stressig und belastend. Nicht nur wegen der Arbeit, den vielen Patienten. Sondern auch, weil man unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten muss. Die Schutzkleidung kann Leben retten, ist aber sehr unbequem. Und dann haben wir auch Angst, unsere Familien anzustecken. Manche gehen gar nicht mehr nach Hause.
Ich selber habe meine Kinder seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Auch meine Eltern. Es ist ein extremer Stress. Nicht nur wegen der Anzahl Patienten. Ihnen zuschauen zu müssen, wie sie leiden Tag und Nacht. Die Situation ist psychologisch und auch physisch stressig. Es ist wirklich eine sehr schlimme Krankheit. Nicht einfach eine Grippe, wie viele immer noch sagen.
Das Interview führte Daniela Lager.