Von einem Tag auf den anderen kann alles anders sein: So geschehen bei Familie Trentini. Heute weiss Mutter Daniela: Die Müdigkeit, der soziale Rückzug, die Antriebslosigkeit, die sie schon lange plagten – all das lag nicht an Vitaminmangel, am Alter oder an Überlastung, sondern waren erste Boten einer psychischen Erkrankung.
Der Hausarzt sprach das Thema Depression erstmals an. Nur wenige Tage später wurde die Lage erstmals wirklich angespannt. Daniela ging es psychisch so schlecht, dass sie sich akut ärztliche Hilfe suchen musste und begann, Antidepressiva einzunehmen. Nur sehr langsam fand sie wieder zurück ins Leben – eine Situation, die nicht zuletzt für ihre damals 17-jährige Tochter und den 13-jährigen Sohn eine enorme Belastung war.
Geschätzte 50'000 Kinder in der Schweiz müssen mit der psychischen Erkrankung eines oder beider Elternteile zurechtkommen. Überträgt man Untersuchungsergebnisse aus Deutschland auf die Schweiz, müsste die Zahl noch wesentlich höher liegen: Experten rechnen mit bis zu 300'000 Kindern, die unter solch erschwerten Bedingungen aufwachsen.
Erfasst sind sie nirgends, weil sie nirgendwo routinemässig auftauchen, weder in einer erweiterten Therapie, noch in Patientenakten, noch in unterstützenden Angeboten. Das kann zum Problem werden.
Die Depression wirft den Alltag durcheinander
Allein der Alltag ist für Kinder psychisch kranker Eltern nicht einfach zu bewältigen. «Meine Mutter konnte zum Beispiel kein Znacht mehr kochen oder einkaufen gehen. Wir haben das aber miteinander gut gemeistert und die Einkäufe einfach zusammen mit meinem Vater gemacht. Das ist dann fast zum Ritual geworden», erzählt Tochter Cristina Trentini.
Ein solcher Elternteil, der es schafft, für seine Kinder Stabilität in einer unsicheren Zeit herzustellen, ist ein Segen. Der Vater war in dieser Zeit Ansprechpartner für alle Nöte. «Ich hatte Angst, was mit meiner Mutter ist und wie lange das jetzt anhält. Und ich hatte Schuldgefühle – schon durch ganz banale Fragen: Hab ich das Zimmer genug aufgeräumt? War ich zu viel weg?»
Ihr Vater konnte Cristina diese Befürchtungen aber eins ums andre Mal nehmen. «Er war immer für mich da und hat mir immer wieder gesagt, dass mich und meinen 13-jährigen Bruder keine Schuld trifft.»
Schon ganz kleine Kinder wollen wissen, was los ist. Sie wollen das verstehen.
Auch Mutter Daniela selbst fühlte, wie schwer ihre Depression auch auf ihrer Familie lastete: «Ich habe mir Sorgen um die Kinder gemacht und gesehen, dass sie das seelisch sehr belastet. Ich habe aber auch versucht, ihnen die Belastung zu nehmen und ihnen zu erklären, dass sie trotzdem mit ihren Freunden abmachen und ihr Leben quasi neben mir weiterleben sollen.»
So viel Offenheit ist psychisch Kranken aber vielfach gar nicht mehr möglich: Sie sind beispielsweise in einer Depression sehr auf sich bezogen und nur noch damit beschäftigt, zu überleben und aus ihrem Tief wieder herauszukommen.
Heute geht es Daniela viel besser. Auch ihre beiden Kinder haben die Zeit gut verarbeitet. Tochter Cristina machte das Thema sogar zu ihrer Maturarbeit und schrieb einen Ratgeber für Jugendliche in einer ähnlichen Situation – mit durchwegs positiven Reaktionen auf den offenen Umgang mit der Krankheit.
Kein Netz für die Kinder
Doch nicht alle Kinder verkraften die psychische Erkrankung eines Elternteils so gut. Ein Drittel wird dadurch selbst psychisch krank. Ein gutes Netz, das sie schon frühzeitig in ihrer schwierigen Lage auffängt, könnte das in vielen Fällen verhindern.
«Wir wünschen uns sehr, dass die behandelnden Ärzte ihre Patienten auch danach fragen, wie es der Familie geht und wer nach ihr schaut. Doch bislang sind die Ärzte nur für die Erwachsenen zuständig. Die Anliegen der Kinder werden vergessen», bemängelt Kurt Albermann, Kinderarzt und Kinderpsychiater vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Kantonsspitals Winterthur. Tatsächlich: Auch Familie Trentini wurde keine Hilfe angeboten. Beratung suchte sich Danielas Mann auf eigene Faust bei der behandelnden Psychiaterin. Die Kinder jedoch sprachen nie mit einer Fachperson, es wurde ihnen auch nicht angeboten.
«Schon ganz kleine Kinder wollen aber wissen, was los ist, sie wollen das verstehen», sagt Kurt Albermann. Nicht immer kann das der Partner leisten, dann sollten Kinder auch die Möglichkeit bekommen, mit einer Fachperson zu sprechen. Denn Offenheit und eine stabile Bezugsperson sind massgeblich, um die Kindersorgen zu verringern und die meist grossen Ängste zu nehmen. Grössere Kinder sollten wenn möglich auch mit dem betroffenen Elternteil sprechen und ihm erklären, wie sie sich fühlen.
Hilfe holen
Je kleiner die Kinder und je gewohnter sie an die Situation sind, desto eher empfinden sie die psychische Erkrankung eines Elternteils als normal. Und natürlich spielt eine Rolle für die familiäre Situation, wie krank die Mutter oder der Vater ist. Anzeichen dafür, dass die Situation die Kinder überfordert, sind plötzlich schlechtere schulische Leistungen, wenn Kinder sich immer stärker zurückziehen und immer ruhiger werden – oder immer auffälliger.
Ist ein Elternteil wegen seiner Erkrankung stark mit sich selbst beschäftigt, ist das Kind auf sich alleine gestellt. Viele Kinder versuchen dann, besonders nach aussen hin möglichst unauffällig zu sein. Fällt Aussenstehenden auf, dass Kinder unter der familiären Situation leiden, sollten sie das Thema offen mit der Familie besprechen. Oft findet sich dann gemeinsam eine Lösung, die die Lage zumindest entspannt.