Die Komaforschung ist eine junge Wissenschaft. Auf der Suche nach dem Bewusstsein stösst sie in das Gebiet der Philosophie und auch der Medizin vor. Letztere macht es möglich, dass immer mehr Menschen trotz schwerster Hirnverletzung überleben. Was im Gehirn dieser Patienten passiert, erklärt der Hirnforscher Steven Laureys.
SRF: Was ist das Bewusstsein?
Steven Laureys: Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Niemand versteht das menschliche Bewusstsein. Aber als Arzt muss ich definieren, wann ich einem Menschen das Bewusstsein abspreche.
Wir reduzieren das Bewusstsein auf zwei Dimensionen: Wachheit und Bewusstheit. Sie sitzen jetzt mit offenen Augen vor mir, sind also wach.
Wachheit ist notwendig, aber nicht hinreichend für Bewusstsein. Dafür brauchen Sie Bewusstheit, die Fähigkeit ihre Umgebung und sich selber wahrzunehmen.
Bewusstheit ist schwieriger zu messen als Wachheit. Dafür setzen wir Hirnscanner ein. Diese liefern uns Hinweise über den Grad an Bewusstheit, den ein Mensch momentan hat.
Heute gehen Hirnforscher davon aus, dass Bewusstsein in Netzwerken aufgebaut ist. Wie sind diese Netzwerke gestrickt?
Eine Zelle allein kann kein Bewusstsein haben. Entscheidend ist, wie diese Zelle mit anderen zusammenwirkt. Heute kennen wir verschiedene Techniken, um Bilder vom Gehirn zu machen.
Nicht nur Bilder von den Hirnzellen, sondern auch von der sogenannten weissen Substanz, jenen Anteilen unseres Gehirns, die aus Leitungsbahnen bestehen. Hier befinden sich die Schnellstrassen unseres Gehirns.
Finden wir nun Schäden an sehr wichtigen Schnellstrassen, ist das wie im Strassenverkehr: Ein Unfall an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt wirkt sich auf weite Teile des Strassennetzes aus. Das gleiche geschieht im Gehirn.
Viele denken vermutlich: Wenn mir das passiert, dann lasst mich sterben. Unsere Studie zeigt etwas anderes.
Was verändert sich für eine Patientin, wenn Sie ihr Bewusstsein zusprechen?
Deren ganze Welt: Die Betreuung wird besser. Sie erhält Schmerzmittel und intensivere rehabilitative Therapien. Unter dieser Behandlung wird sich auch das Ergebnis verbessern.
Patientinnen mit Bewusstseinsstörungen werden aber noch zu oft vernachlässigt. Das geschieht in aller Stille. Selbst junge Patientinnen landen in Alters- und Pflegeheimen.
Sie haben das Wohlbefinden von Patienten mit speziellen Hirnscanner-Methoden erforscht. Mit welchem Ergebnis?
Wir wollten wissen, wie sich Patientinnen fühlen, die sich ihrer Umwelt nicht mitteilen können. Dies von Menschen zu erfahren, die im Zustand eines minimalen Bewusstseins sind, ist schwierig.
Wir haben daher Personen mit einem Locked-in-Syndrom befragt. Diese sind bei vollem Bewusstsein, aber bis auf kleine Augenbewegungen gelähmt.
Wir alle denken vermutlich: Wenn mir das passiert, dann lasst mich sterben. Aber unsere Studie zeigte: Die meisten Patienten empfinden ihr Leben durchaus als lebenswert. Dennoch: Eine kleine Minderheit war aber unglücklich und wollte sterben.
Soll man diesen Menschen den Sterbewunsch erfüllen?
Ich denke, eine dogmatische Haltung ist hier fehl am Platz. Was wir diskutieren, ist in keinem der «heiligen Bücher» vorweggenommen worden. Niemand konnte vorhersagen, dass es einmal Beatmungsmaschinen geben würde und in der Folge den Hirntod oder das Wachkoma.
Diese Krankheitsbilder sind Folge einer Spitzenmedizin. Diesem Phänomen müssen wir uns stellen und damit auch der Frage, ob wir den betroffenen Menschen den Sterbewunsch erfüllen – und zwar im Rahmen einer offenen gesellschaftlich-demokratischen Diskussion.
Es gibt diese Menschen und wir sollten alles tun, um sie zu heilen und ihnen im Leben zu helfen. Aber wenn sie sterben wollen, dann erstreckt sich meine Fürsorgepflicht als Arzt und Betreuer über die Pflege hinaus. Fürsorge bedeutet manchmal auch, über das Lebensende zu sprechen und Menschen sterben zu lassen, wenn sie dies wünschen.