Familiäre Sorgen, Trennung oder Tod, finanzielle Probleme, Stress im Beruf. Alles dreht sich. Bei Michael S. ist es kurz vor Weihnachten so weit: Seine Beziehung geht in die Brüche, seine Mutter ist krebskrank, keine Wertschätzung im Beruf, dazu noch ein Unfall, der ihm seinen geliebten Sport verunmöglicht.
Alle Standpfeiler, die ihm sonst Halt geben, stürzen ein oder wanken. Plötzlich steckt er in einer tiefen psychischen Krise und merkt, dass er den Weg alleine nicht mehr hinausfindet.
Zwei Wochen lang bemüht sich Michael S.um einen Termin bei einer psychologischen oder psychiatrischen Fachperson. Auf die Schnelle bekommt er keine Sprechstunde. Schliesslich kann er nicht mehr länger warten und meldet sich beim Kriseninterventionszentrum (KIZ) in Zürich.
Bis 50 Anrufe pro Tag
Für Menschen in aussergewöhnlichen Lebenslangen bieten KIZ ambulant und stationär fachliche Betreuung. Der Aufenthalt ist immer freiwillig. Die erste Kontaktaufnahme erfolgt in der Regel telefonisch. An manchen Tagen gehen am KIZ in Zürich bis zu 50 Anrufe ein. Pro Jahr sind es 600 – Tendenz steigend. Die meisten Probleme können bereits am Telefon gelöst werden. Nicht selten suchen auch Angehörige von psychisch kranken Menschen Rat.
Die psychologisch geschulten Fachleute nehmen sich den Hilfesuchenden an. Bei akuten Fällen, wenn jemand zum Beispiel bereits konkrete Massnahmen für einen Suizid getroffen hat, versuchen die KIZ-Mitarbeitenden die Betroffenen zu motivieren, beim KIZ vorbeizuschauen. «Wer sich entscheidet anzurufen, sucht Hilfe. Meistens ist es der Wunsch nicht mehr leiden zu müssen und kein eigentlicher Todeswunsch», so Jantine Engel langjährige Betriebsleiterin des KIZ Zürich.
Ambulant oder stationär
KIZ in der Schweiz
Auch Michael S. ruft beim Kriseninterventionszentrum an. Sein Leidensdruck ist so gross, dass seine Probleme nicht am Telefon oder mit einem ambulanten Besuch im KIZ gelöst werden können. Er bleibt auf der Station und bezieht eines der zehn Betten.
Maximal vier Nächte kann Michael S. im KIZ bleiben. Wahrend des Eintrittsgesprächs und den ärztlichen Untersuchungen entscheidet man das weitere Vorgehen.
Der geschützte Rahmen dient als Rückzugsort. Täglich stehen zwei Gesprächs-Therapien auf dem Programm. Ansonsten gehen die Patienten unterschiedlichen Beschäftigungen nach. «Sie machen das, was ihnen gut tut. Manche gehen weiterhin zur Arbeit, andere machen Spaziergänge, ziehen sich zurück, schauen Filme oder lesen», sagt Jantine Engel. Falls jemand Hilfe braucht, hat das KIZ-Fachpersonal 24 Stunden ein offenes Ohr.
Den ersten Schritt aus der Krise machen
Ziel ist es, dass psychologische Betreuung und Gespräche emotional entlasten, damit den Betroffenen der erste Schritt aus der akuten Krise gelingt. «Während des Aufenthalts werden Lösungsansätze gesucht, Strategien erarbeitet und Therapie-Möglichkeiten aufgestellt, die aus der Krise führen sollen und eine nächste verhindern. Der Sinn der Sache ist, dass niemand ins Leere entlassen wird», erklärt Wolfram Kawohl, Chefarzt am KIZ. Am zweiten Tag am KIZ fühlt sich Michael S. etwas besser. Er spürt, dass er den Boden unter den Füssen langsam wieder zurückgewinnt.
«Es braucht Mut sich hier zu melden, sich einzugestehen, dass man dringend psychologische Hilfe braucht», sagt Michael S. Auch wenn man heute offener über psychische Leiden oder Psychotherapien spricht als noch vor zehn Jahren: Psychische Labilität und Krankheiten sind in der Gesellschaft noch immer stigmatisiert.
Suizide in der Schweiz
Suizid-bedingte Todesfälle sind in der Schweiz häufiger als alle durch Drogenmissbrauch und Verkehrsunfälle verursachten zusammen. Zahlen des Bundesamtes für Gesundheit zeigen: Jede zehnte Person in der Schweiz begeht im Verlaufe des Lebens einen oder mehrere Suizidversuche. Täglich gibt es knapp drei Suizidtote. Viele Selbsttötungen werden im Affekt verübt und wären vermeidbar. Deshalb fördern Bund und Kantone die Ausarbeitung neuer Präventionsprogramme.
Entgegen der allgemeinen Vorstellung nimmt die Zahl der Suizide während der Adventszeit und während der Weihnachtstage um 30 bis 40 Prozent ab. Jetzt im Januar steigt die Kurve wieder an. Der Grund: Während der Festtage gibt es viele zwischenmenschliche Verpflichtungen und Veranstaltungen, die soziale Kontakte ermöglichen – sind diese vorbei, klettert auch die Suizidrate wieder auf das vormalige Niveau.