Frank Lange pinkelt ins Zimmer seiner Tochter. Dann legt er sich auf das Sofa im Wohnzimmer, als sei nichts gewesen. Frank Lange lebt im Sterben. In seinem Kopf wächst ein Tumor heran. Er kann nicht operiert werden. Langsam frisst sich der Krebs durch das Gehirn, raubt Lange die Kontrolle der Glieder, vernebelt sein Denken, verändert seinen Charakter.
Der Film «Halt auf freier Strecke» begleitet Frank Lange von der Diagnose bis zum Tod. Unerbittlich. Im Vorführsaal werden manche Augen feucht an diesem Aprilmorgen. Diese Augen gehören nicht normalen Kinobesuchern, sondern Studierenden der Medizin an der Universität Basel.
Den Patienten zuhören
Nach der Vorführung bespricht eine Filmkritikerin das Werk, das gleiche tut ein Neurochirurg. Organisiert hat die ungewöhnliche Veranstaltung der Medizinprofessor Alexander Kiss. Er erklärt den angehenden Ärzten und Ärztinnen, warum sie Filme oder Romane analysieren sollen und nicht nur medizinische und naturwissenschaftliche Lehrbücher: «Das technische Training ist enorm wichtig, aber sie verlieren dabei die Fähigkeit, den Geschichten der Patienten zuzuhören.»
Und diese Geschichten verrieten, wie ein Patient behandelt werden wolle – oder sterben. Darum lässt Kiss seine Studierenden das Erzählen lernen, über Filme oder beim selber Schreiben, zum Beispiel über eine konkrete Begegnung mit einem unangenehmen Patienten: «Dabei kommt ein Gedankenprozess in Gang und ich lege mir Rechenschaft darüber ab, wie es dazu gekommen ist, dass ich den Patienten nicht mag.» Das Ziel: ein professionellerer Umgang mit solchen Patienten.
Der Film über das Sterben des Frank Lange beginnt, als ihn der Neurologe mit den Fakten konfrontiert. Auf manche Studierende wirkt dieses Gespräch ungeschickt, ja brutal – andere finden es nicht so schlimm. Das ist auch eine Erkenntnis an diesem Morgen zwischen Hightech-Medizin und Filmkritik: Die Blicke auf einen Sachverhalt oder eine Person können weit auseinander liegen.
Eine Tatsache aber ist, sagt der Neurochirurg Luigi Mariani den Studierenden: Das Schwierigste an seinem Job sei es, schlechte Nachrichten zu überbringen. «Dieses erste Gespräch nach einer schlimmen Diagnose ist unsere schwierigste Aufgabe.» Und nicht das Erreichen technischer Perfektion.
«Ein Patient ist ein Mensch»
Die Filmkritikerin Brigitte Häring, die an der Veranstaltung beteiligt ist, kann der Begegnung Geisteswissenschaft – Medizin einiges abgewinnen: «Wenn man eine Arzt-Patienten-Diskussion führt, muss man immer etwas erzählen, eine Geschichte begleiten. Und Geschichten werden eben auch in den Geisteswissenschaften erzählt.» Insofern seien sich die beiden Disziplinen manchmal sehr nah.
Die Studierenden sehen das ähnlich. Leonhard Bongers: «Es hat mich schon sehr berührt und ich habe sehr viel mitnehmen können.» Im Wesentlichen gehe es wohl darum, für angehende Ärzte verständlich zu machen, wie sich Patienten fühlen. Und Lydia Joray: «Ein Patient ist ein Mensch, da darf man nicht nur wissenschaftlich denken.»
Geisteswissenschaften schaffen es in den Schweizer Universitäten vor allem über die Ethik oder Medizingeschichte in die Medizinausbildung. Der Ansatz mit erzählerischen Formen ist eine Randerscheinung. Es gebe zwar Ausbauwünsche, sagt der verantwortliche Dozent Alexander Kiss, «aber die Frage ist immer, wie viel Ressourcen man bereit ist zu investieren – dann nimmt das Interesse meist ab.»
Angesichts der aktuellen Debatten über die Medizin, dürften die Universitäten nicht falsch liegen, wenn sie ihre Zurückhaltung ablegen.