Karotten schälen und mit einer Freundin telefonieren, während gleichzeitig das Nudelwasser brodelt. Klingt nach alltäglichem Multitasking, wie es jeder und jede ab und zu kennt.
Für Tanja Di Tommaso ist solches Multitasking ein Dauerzustand. Sie muss sich ständig mit irgendetwas beschäftigen, kann gar nicht anders. Die Folge: Eine konstante Überbelastung. Tanja hat ADHS.
Bei Menschen mit ADHS werden Informationen und eigene Gedanken nicht automatisch vorgefiltert. Sie müssen somit mit einer grösseren Datenflut zurechtkommen. Alltägliche Eindrücke überfluten ihre Sinne und belasten sie dadurch sehr.
Nicht zwingend hyperaktiv
Bei Kindern sprach man früher auch vom Zappelphilipp-Syndrom. Dabei dachte man vor allem an unkonzentrierte Knaben, die darum häufig ungenügende Leistungen in der Schule erbrachten.
Heute weiss man: Es sind beide Geschlechter betroffen. Und Betroffene müssen nicht zwingen unruhig sein. Bei der heute 35-jährigen Tanja Di Tommaso war das auch nie der Fall. Sie war nicht unruhig oder konnte sich schlecht konzentrieren. Im Gegenteil. Tanja war eine gute Schülerin. Konnte und wollte alles lernen – ja sogar brillieren.
Wenn irgendwas nicht in meinen Kopf wollte, bin ich halt dran geblieben, hab gebüffelt und gemacht, bis es klappte.
Und das tat sie auch. Bis sie ins Gymnasium kam. Da wurde die Last immer grösser und Tanja schon bald davon erdrückt – mit 17 Jahren hatte sie ihre erste Erschöpfungsdepression.
Bis zur Diagnose ADHS vergingen jedoch noch einige Jahre. Erst als Tanjas Mutter und Schwester die Diagnose ADHS erhielten, kam man auch bei ihr auf die Idee, dies abzuklären.
Wichtige Diagnose
Auch Ramon Schuler wusste bis vor kurzem nichts von seinem ADHS. Er hingegen hatte bereits in der Schule Mühe, sich zu konzentrieren – brachte schlechte Noten heim, eckte immer wieder bei anderen Kindern an, es gab Reibereien. Im Erwachsenenleben belastet Roman Schuler jedoch am meisten seine Impulsivität. Er ist schnell reizbar. Früher hat das seine Mutter zu spüren bekommen – heute seine Frau.
Im letzten Herbst führte darum eine ganz alltägliche Situation zum Streit. Es wurde laut. Dann gedroht. Und fast kam es zu Handgreiflichkeiten.
Solche Momente machen Roman Schuler Angst. Gedanken, seinem Leben ein Ende zu bereiten, krochen langsam ins Bewusstsein.
Deshalb suchte der 29-Jährige Hilfe. Die Fragen seiner Therapeutin zu seiner Vergangenheit bringen die typischen Muster zum Vorschein. Denn eine ADHS- Diagnose bei Erwachsenen ist nicht einfach zu stellen.
Gewissheit und Akzeptanz verschaffen
Doch gerade bei Erwachsenen, welche an ADHS leiden, ohne dies zu wissen, ist die Gefahr gross, dass die anfänglichen Auffälligkeiten zu weiteren Problemen führen können. Solche Folgeprobleme können beispielsweise soziale Ausgrenzung, Depression, Angst-, Ess- und Schlafstörungen, Süchte oder delinquentes Verhalten sein.
So können Tanja und Ramon seit der Diagnose ADHS besser akzeptieren, dass sie ein wenig anders sind. Sehen es nicht mehr als eine Unfähigkeit und lernen, damit zu leben. So schaffen sie für sich passende Umstände, um im Leben funktionieren zu können.
Das hilft auch Familienmitgliedern oder Freunden von Betroffenen und schafft Verständnis.
Auch ohne Ritalin
Bei Kindern ist es zwar gang und gäbe, Ritalin zu verschreiben. Sie können sich dadurch in der Schule rasch besser konzentrieren und verlieren den Anschluss an den Schulstoff nicht. Gerade bei Erwachsenen ist es jedoch nicht unbedingt nötig, ein Leben mit Ritalin zu gestalten. Wobei das Medikament durchaus helfen kann dabei, sich besser kennenzulernen. So hat Tanja Di Tommaso herausfinden können, wie es sich anfühlen würde, wenn sie kein ADHS hätte.
In den ersten zwei Jahren nach der Diagnose nahm sie das Medikament regelmässig. Heute nur noch gelegentlich. Denn grundsätzlich fühlt sich Tanja durch ihr ADHS nicht eingeschränkt. So kümmert sich die dreifache Mutter und Ehefrau um den Haushalt, die fünf Katzen und produziert pro Jahr nebenbei noch 80 liebevoll genähte Steckenpferde.