Nach einem schweren Autounfall lag Melanie Zimmermann (37) im vergangenen September im Wachkoma. Im Gespräch schildert sie ihren langen Weg zurück ins Leben.
SRF: Frau Zimmermann, es ist schwer sich vorzustellen, eine Gedächtnislücke über vier Monate zu haben. Wie geht es Ihnen damit?
Melanie Zimmermann: Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, dass einem so viele Dinge fehlen. Ich kann mich zum Beispiel an die Wachkoma-Station nicht mehr erinnern. Kein Mensch, der dort arbeitet, kommt mir bekannt vor.
Ich hatte nach dem Wachkoma noch lange ein sehr schlechtes Gedächtnis. Ich konnte mir nur schwer Neues merken, zum Beispiel die Namen der Pfleger und Therapeutinnen. Das war mir sehr unangenehm. Dann wurde dies aber immer besser und ich realisierte, dass ich mir neue Dinge wieder gut einprägen kann.
Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, dass einem die Erinnerung fehlt.
Was mir die Erinnerungslücken in gewisser Weise schliesst, ist das Tagebuch meines Mannes Patrick. Das Tagebuch wurde ihm vom Personal auf der Intensivstation des Unispitals Basel geschenkt, als ich noch im Koma lag.
Immer wenn er bei mir war, hat er etwas reingeschrieben. Auch das Personal hat Einträge gemacht. Mein Mann hat zum Beispiel notiert, was er mir erzählt hat, wie ich reagiert habe, wie es den Kindern geht, wer mich besucht hat.
Als ich dann zum ersten Mal im Tagebuch las, war das für mich ein wunderschönes Erlebnis. Mein Mann hat mich auf diese Art am Leben teilnehmen lassen und es war schön zu wissen, dass immer jemand bei mir war und dass die Pflegenden so lieb waren zu mir.
Ihr Mann war sehr wichtig für Sie in dieser Zeit?
Ja, er ist mir eine sehr grosse Stütze. Und es hat mich sehr berührt, dass er immer an mich geglaubt hat. Für ihn war immer klar, dass ich es schaffe.
Wie geht es Ihnen heute?
Ich kann immer noch nicht gut laufen, die Beweglichkeit meiner Arme ist eingeschränkt. Ich bin schnell erschöpft. Ich werde weiterhin Therapie brauchen.
Die Kinder fehlen mir wahnsinnig.
Andererseits habe ich auch Glück. Ich konnte schnell wieder sprechen und ich kann mich an alle wichtigen Ereignisse meines Lebens vor dem Unfall erinnern.
Ich wusste zum Beispiel von Anfang an, wie meine Kinder heissen, wie alt sie sind, wie ihre Geburt verlaufen war. Diese Erinnerungen sind mir das Wichtigste. Es hätte ja auch alles weg sein können.
Vieles habe ich erst nach und nach realisiert. Etwa wie schlimm der Unfall war, wie schwer verletzt ich war und dass zu Beginn nicht sicher war, ob ich mit dem Leben davonkomme. Damit habe ich mich erst in den letzten Wochen zu beschäftigen begonnen.
Ich habe nie gehadert. Auch nicht mit dem jungen Unfallverursacher. Er hat das ja nicht absichtlich getan. Ich habe akzeptiert, was passiert ist: den Unfall, das Koma, das Wachkoma und die lange Zeit in der Reha.
Ich habe nie gehadert. Auch nicht mit dem jungen Unfallverursacher.
Natürlich hätte ich auf dieses Ereignis verzichten können. Aber heute bin ich dankbar. Dankbar, dass die Kinder nicht im Auto waren und dankbar, dass ich überlebt habe. Mein Leben geht weiter.
Welche Hilfe war für Sie in der Reha am wichtigsten?
Hier in der Reha waren für mich die vielen Therapien wichtig wie die Ergo- und Physiotherapie. Auch die vielen Gespräche waren sehr wichtig für mich und natürlich die Geduld der Pflegenden.
Heute ist die Psychologin, zu der ich auch ambulant weiterhin gehen werde, eine grosse Unterstützung. Obwohl ich überhaupt nicht begeistert war, als ich zum ersten Mal einen Termin bei ihr hatte. «Denken die eigentlich, ich spinne?», das war damals meine erste Reaktion.
Ich ging dann auch sehr missgestimmt zum Gespräch. Und wissen Sie was? Diese Psychologin ist einfach Weltklasse. Sie hat mir sehr geholfen.
Sie hat mir zum Beispiel erklärt, was mit meinem Gehirn passiert ist. Warum ich mich an so vieles aus der Zeit nach dem Unfall nicht mehr erinnern kann. Warum der Unfall komplett weg ist.
Früher wusste ich, dass ich überlebt habe. Jetzt fühle ich es auch.
Ich bin froh, dass ich mich nicht direkt an den Unfall erinnern kann. Trotzdem konnte ich mich am Anfang nicht mehr in ein Auto setzen. Das geht jetzt wieder.
Was waren die schwierigsten Momente für Sie?
Die Kinder fehlen mir wahnsinnig. Auch dass ich die Feiertage, Weihnachten, Ostern, oder Schulaufführungen nicht mit ihnen teilen konnte. Das ist sehr schmerzhaft.
Sie haben mir zwar immer Filme geschickt, aber es ist halt nicht dasselbe. Darum freue ich mich sehr, dass ich wieder zu Hause sein werde, wenn im Spätsommer unsere Tochter eingeschult und unser Sohn auf eine andere Schule versetzt wird.
Wann hatten Sie das Gefühl, dass Sie sich wiederhaben?
Es war im März, also etwa sieben Monate nach dem Unfall, da kam irgendwie mein Gefühl für mein eigenes Leben zurück. Früher wusste ich, dass ich überlebt habe. Jetzt fühle ich es auch. Es ist jetzt wieder mein Leben.
Ich hatte Schuldgefühle, weil ich meine Aufgaben nicht erfüllen konnte.
Jetzt will ich auch wieder etwas unternehmen mit meinen Kindern und mit meinem Mann. Heute würde ich am liebsten hinstehen und ganz laut sagen: Ja, ich lebe noch.
Das hat Zeit gebraucht.
Ja, ich wollte lange nicht unter Menschen sein. Wollte nicht einkaufen. Ich habe mich für mein Aussehen geschämt. Meine langen roten Haare sind wegen der Hirn-OP immer noch sehr kurz, und ich habe zugenommen.
Aber es war nicht nur das Äussere, wofür ich mich geschämt habe. Ich habe mich für den Unfall geschämt. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen warum.
Mein Mann hat mir zwar schon gesagt, dass mich keine Schuld trifft. Aber ich dachte, ich würde es nie mehr schaffen, nach draussen zu gehen.
Ich hatte einfach Schuldgefühle, weil ich meine Aufgaben nicht erfüllen konnte. Weil ich meinen Kindern keine Mutter, meinem Mann keine Frau sein konnte, meiner Mutter keine Tochter. Und dann hat irgendetwas in meinem Kopf klick gemacht.
Ich möchte anderen Betroffenen Mut machen: Macht weiter. Es lohnt sich.
Jetzt bin ich stolz und möchte das Erlebte teilen. Ich möchte ins Leben zurück. Und ich möchte anderen Betroffenen Mut machen: Macht weiter! Es lohnt sich. Ihr könnt euch zurück ins alte Leben kämpfen.
Das Gespräch führte Katharina Bochsler.