«Die Erwartungshaltung für eine neue Behandlung war noch nie so gross. Wir sind immer wieder angefragt worden, wann denn das neue Medikament kommt. Ich musste die Patienten auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten. Jetzt ist es endlich auch bei uns erhältlich», sagt der Zürcher Kopfschmerzspezialist und Neurologe Reto Agosti.
Hype vor Markteinführung
Aimovig heisst das neue Arzneimittel, von dem hier die Rede ist. Es soll Migräneattacken nicht nur lindern, sondern verhindern.
Um Aimovig ist schon Monate vor der Markteinführung ein richtiger Hype entstanden. Die Nachfrage in den USA sei beispiellos gewesen, freute sich Hersteller Novartis. In Europa sind die Erwartungen ähnlich hoch.
Dumpfe oder stechende Schmerzen
«Wenn man betroffen ist, denkt man als erstes: Jetzt naht die ultimative Rettung», sagt Denise Bolle über den Moment, als sie zum ersten Mal von Aimovig hörte. Bolle leidet, wie rund eine Million Menschen in der Schweiz, an Migräne.
Bei Denise Bolle ist das Leiden ziemlich schlimm. Sie spürt genau, wenn sich eine Attacke ankündigt. «Das beginnt mit einem dumpfen oder stechenden Schmerz. Man weiss, jetzt fängt es wieder an. Der Leidensweg ist relativ lang. Bei mir dauert eine Attacke ein bis drei Tage, an denen ich permanent Schmerzen habe.»
Mit Triptanen den Serotoninhaushalt beeinflussen
Besser wurde es mit Triptanen. Das sind Arzneien, die den Spiegel des Gehirnbotenstoffs Serotonin beeinflussen und Attacken wirksam bekämpfen. Allerdings sollten Migräniker monatlich nicht mehr als zehn dieser Tabletten schlucken, weil Triptane die Migräne auch verstärken können.
Denise Bolle kommt auf zwölf bis 15 Tabletten monatlich. «Die Ärzte verwerfen die Hände, wenn sie das hören. Ich mache es trotzdem, weil es mir damit gut geht. Das sollte aber nicht so sein, denn es kann sein, dass es immer mehr und mehr wird.»
Für Denise Bolle ist klar, dass es langfristig eine andere Lösung braucht. «Also habe ich gedacht, ich muss eine Prophylaxe habe und bin sofort zum Arzt gegangen, als ich von dieser Antikörpertherapie gehört habe.»
Innovativer Ansatz
Das neue Präparat Aimovig sind Antikörper, die man sich unter die Haut spritzt. Es stehen zwar schon seit Jahrzehnten prophylaktische Migränemedikamente zur Verfügung, aber diese wurden eigentlich für andere Erkrankungen, wie Bluthochdruck oder Epilepsie, zugelassen.
Auch Botox-Spritzen werden eingesetzt, damit sich die Muskelpartien am Kopf entspannen. Aimovig hingegen wirkt spezifisch gegen Migräne: Die Antikörper blockieren ein körpereigenes Eiweiss, das bei Migräneattacken eine Schlüsselrolle spielt.
Dieser neue Ansatz ist für Reto Agosti ein Meilenstein: «Es ist ein neues Wirkprinzip da. Was dieses Medikament attraktiv macht, ist, dass wir bisher in den Studien keine Nebenwirkungen entdeckt haben.»
Migränemittel für alle?
Doch wie wirksam ist Aimovig tatsächlich und ist es für alle Migränepatienten geeignet? «Aus den Studienresultaten kann man eine 50:50-Regel ableiten. Etwa 50 Prozent der behandelten Patienten profitieren zu 50 Prozent», führt Agosti aus. «50 Prozent haben also beispielsweise 50 Prozent weniger Attacken oder eine Steigerung der Lebensqualität um 50 Prozent.»
Das bedeutet: Aimovig wirkt nur bei der Hälfte von denen, die es anwenden. Und auch wenn es nützt, wirkt es nur zu 50 Prozent. Somit relativiert sich der Nutzen dieses Medikaments, selbst wenn gemäss den Studien dazu einzelne schwere Migräniker gar keine Anfälle mehr hatten.
Option für schwere Fälle
Manche Spezialisten sind deshalb nicht ganz so enthusiastisch. Etwa der Neurologe Rudolf Lüdi vom Kantonsspital Olten: «Das Medikament vor allem für die schwer betroffenen Migränepatientinnen und -patienten eine Option»
Wer aber nur ein- oder zweimal im Monat eine Migräne habe, sei mit einem herkömmlichen Medikament gegen die Attacke besser bedient. Und das ist laut Lüdi die Mehrheit der Migräniker.
Hoher Preis für Lebensqualität
Ein Minuspunkt ist auch der hohe Preis von Aimovig: Eine Monatsspritze dürfte auf zirka 600 Franken zu stehen kommen.
Reto Agosti findet diese Kosten aus persönlicher Sicht gerechtfertigt: «Wenn ich für zehn Franken am Tag eine Migräne verhindern kann, die mein Berufsleben vermiest, meine Karriere erschwert und meine Freizeit behindert, dann bin ich bereit, das zu bezahlen.»
Rudolf Lüdi jedoch sieht dies aus der gesundheitsökonomischen Warte anders: «Die Behandlungskosten von Aimovig sind hoch. Umso wichtiger ist es die richtige Auswahl an Patienten zu treffen, damit diese auch von dieser teuren Behandlung profitieren können.»
Antikörper als letzte Option
Denis Bolles Arzt zeigte sich zurückhaltend, als sie ihn nach einem Aimovig-Rezept fragte. «Er sagte, dass das Spritzen von Antikörpern ein starker Eingriff ins System sei. Er würde das erst versuchen, wenn alles anderen nicht nützt»
Deshalb macht Migränikerin Bolle jetzt erst mal eine Botox-Prophylaxe. Die ist mit 400 Franken pro Spritze nicht ganz so teuer.