Wenn Gelähmte wieder auf die Beine kommen und wieder gehen können, klingt das nach einem Wunder. Ein Schritt in diese Richtung ist nun aber einem Forscherteam der ETH Lausanne und der Lausanner Uniklinik gelungen.
Sie haben drei Patienten mit einer Querschnittlähmung eine spezielle Elektrode aufs Rückenmark gepflanzt. Mit der Hilfe einer Software und des Rollators können die drei wieder gehen – sogar Velofahren und Schwimmen.
Vier Jahre im Rollstuhl
Einer der drei Patienten ist Michel Roccati. Er verunfallte vor vier Jahren mit seinem Motorrad. Danach spürte er seine Beine nicht mehr. Sie waren komplett gelähmt.
Im Sommer 2020 kam der Italiener nach Lausanne in die Uniklinik CHUV, wo ihm die Neurochirurgin Jocelyne Bloch eine neu entwickelte Elektrode direkt aufs Rückenmark setzte.
Komplexe Impulse
In den Bauchraum pflanzte sie einen Computer, der via Elektrode die Nerven im Rückenmark mit unterschiedlichen Signalmustern stimuliert. Ähnliche Impulse steuern auch bei Gesunden die Muskeln in Beinen und Unterkörper so, dass sie gehen oder schwimmen können.
Als das System kurz nach der Operation eingeschaltet wurde, konnte Roccati nach vier Jahren Lähmung wieder aufstehen und gehen.
Zunächst noch ungelenk und wackelig - und nur dank einer Vorrichtung, die Roccati von seinem Gewicht entlastet.
Nur mit viel Schweiss möglich
Heute kann er selbständig mit Rollator einen Kilometer zurücklegen. Mehr noch: «Dank der Elektrostimulation kann ich auch Treppen steigen und schwimmen», sagt Michel Roccati. Was er am meisten schätzt: Aufstehen und mit seinen Kunden ein Gespräch auf Augenhöhe führen.
Allerdings musste Roccati dafür über Monate üben. Ohne Schweiss und einiges mehr ist dieses Wunder für Querschnittgelähmte nicht zu haben, sagt Anke Scheel-Sailer, leitende Ärztin am Paraplegikerzentrum in Nottwil: «Es braucht Eigeninitiative, viel Ausdauer und Geduld und auch Interesse an diesen digitalen elektrostimulierenden Zusammenhängen.»
Technisches Verständnis nötig
Nur in enger Zusammenarbeit mit der ihnen eingepflanzten Technik könnten die Patienten ihre Bewegungsfähigkeit zurückgewinnen – wenigstens teilweise: Auch nach langem Training gelingen die Bewegungen nicht flüssig und mühelos. Im Alltag kann Roccati das System ein paar Stunden pro Tag nutzen.
Darum, sagt Scheel-Sailer, die nicht an der Studie beteiligt war, sei diese Technik noch nicht für alle querschnittgelähmten Menschen geeignet – aber es sei ein grosser Schritt voran: «Ziel dieser Arbeit, war es, zu zeigen, dass es funktioniert.»
Vereinfachung nötig
Grégoire Courtine, der leitende Forscher der ETH Lausanne, widerspricht der Einschätzung von Scheel-Sailer nicht. Es gehe nun darum, die Technik so weiterzuentwickeln, dass sie einfacher nutzbar sei. «Es ist sehr wichtig, dass die Technik einfach zu benutzen ist», sagt Grégoire Courtine. «Das ist unser Ziel.» In klinischen Studien wird nun ausgelotet, für welche Menschen mit Querschnittlähmung das Elektrostimulationssystem Vorteile bringt.
Für Michel Roccati ist das Simulationssystem in seiner jetzigen Form offensichtlich schon das, was er sich gewünscht hat: «Wenn man fortlaufend Fortschritte macht, ist das Motivation genug.» Dann könne man gar nicht aufhören zu üben.