«Um der Gesundheit etwas Gutes zu tun» und «um Defizite auszugleichen»: Es sind die zwei am häufigsten genannten Argumente von Schweizerinnen und Schweizern zur Einnahme von Vitamin- und Mineralstoff-Präparaten. 30 Prozent schlucken hierzulande regelmässig Vitamine oder Mineralstoffe – vor allem Frauen mit einem sowieso schon gesunden Lebensstil.
Es sind Daten, die das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) 2022 erhoben hat. Urs Stalder, Leiter Fachbereich Nutrimonitoring, sagt über den Hintergrund der Befragung: «Wir wollten herausfinden, ob es allenfalls einen kritischen Konsum gibt, also eine Überversorgung mit Nahrungsergänzungsmitteln.»
Produkte wie Brausetabletten oder Tropfen seien beliebt und würden stark beworben – vor allem im Winterhalbjahr im Zusammenhang mit der Erkältungs- und Grippe-Saison. Ein Milliarden-Geschäft. Weltweit.
Dies vorweg: Ob es einen kritischen Konsum gibt, kann abschliessend nicht gesagt werden. Das BLV empfiehlt aber die Einnahme solcher Präparate nur in Absprache mit Arzt oder Apotheke. Eine Kombination verschiedener Präparate sollte zudem vermieden werden. Auch die Forschung belegt: Viel hilft nicht immer viel.
Studien zeigen: Vitamin-Präparate bringen keinen zusätzlichen Nutzen
Verschiedene Studien haben sich in den letzten Jahrzehnten mit der Frage beschäftigt, ob Supplemente mit Vitaminen bei gesunden Erwachsenen einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben. Mit klarem Resultat: Nein. So konnte beispielsweise Vitamin C bei der Durchschnittsbevölkerung weder Erkältung oder Grippe verhindern, noch die Symptome statistisch relevant reduzieren.
Die empfohlene Menge Vitamin C – rund 100 Milligramm täglich – kann zudem problemlos durch eine ausgewogene Ernährung mit fünf Portionen Früchte oder Gemüse pro Tag aufgenommen werden. Diese Menge entspricht in etwa ein bis zwei Orangen, einer halben Peperoni oder einem halben, gedämpften Brokkoli.
- Zu viel Vitamin C kann bei Menschen mit einer Niereninsuffizienz zu einer vermehrten Bildung von Oxalsäure führen und damit das Risiko für Nierensteine fördern.
- Auch eine Überdosierung mit Vitamin A und dessen Vorstufe Beta-Carotin kann Konsequenzen haben. Eine gross angelegte Studie wollte in den 90er-Jahren den positiven Nutzen von Vitamin A belegen – herausgekommen sind die Daten dann ganz anders: Bei Raucherinnen und Rauchern wurde ab der 20-fachen Tagesdosis ein erhöhtes Risiko für Lungenkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen festgestellt.
- Auch Schwangere sollten von reinem Vitamin A, wie es in der Leber vorkommt, die Finger lassen. Bereits ab einer Tagesdosis von gut acht Milligramm kann der Fötus Schaden nehmen.
Gesundes Essen toppt Vitamin- und Mineralstoff-Präparate
Peter E. Ballmer ist Professor und Facharzt für Allgemeine und Innere Medizin. Er hält von Vitamin- und Mineralstoff-Präparaten nichts: «Ein isoliertes Vitamin-Präparat einzunehmen, ist keine gute Idee. Es fehlen alle anderen wichtigen Nährstoffe, die ebenfalls in Früchten und Gemüse enthalten sind, wie Nahrungsfasern zum Beispiel.»
Ein isoliertes Vitamin-Präparat einzunehmen, ist keine gute Idee. Es fehlen alle anderen wichtigen Nährstoffe.
Auch das Argument der Hersteller, dass bei starker Belastung im Alltag ein erhöhter Bedarf bestehen würde, schlägt Peter E. Ballmer in den Wind: «Für den Normalbürger ist das kein Thema, da braucht es einfach eine gesunde, ausgewogene Ernährung.» Einen erhöhten Bedarf gebe es vielleicht während der Schwangerschaft oder bei Leistungssportlern.
Irgendwelche verrückten Bestimmungen, die nur viel Geld kosten, kann man sich getrost sparen.
Der ehemalige Chefarzt und Klinikleiter Innere Medizin am Kantonsspital Winterthur ist pensioniert. Sein Fachwissen ist aber nach wie vor gefragt. Tageweise hilft er deshalb noch in einer Gruppenpraxis in Winterthur aus. «Vitamin-Mangel sehe ich sehr selten», berichtet er aus seinem Praxis-Alltag. «Irgendwelche verrückten Bestimmungen, die nur viel Geld kosten, kann man sich getrost sparen.»
Das Risiko für Mangelerscheinungen sei äusserst selten. Nur bei speziellen Ernährungsformen, während bestimmten Lebensphasen und bei gewissen Erkrankungen könne es zu einem Vitamin- oder Mineralstoff-Mangel kommen.
Als Beispiele nennt er die Alkoholsucht, die vegane Ernährungsweise, bei der es zu einer Unterversorgung mit dem B-Vitamin B12 kommen kann, Schwangerschaft und Stillzeit mit erhöhtem Bedarf an Folsäure sowie Menschen mit Polypen oder Darmkrebs, die unbemerkt Blut verlieren und durch die Blutarmut einen Eisen-Mangel entwickeln.
Nährstoffversorgung ist nicht top, aber ausreichend
Auch Urs Stalder vom BLV ist überzeugt, dass Nahrungsergänzungsmittel für gesunde Erwachsene nicht nötig sind: «Wir sind der Meinung, dass eine ausgewogene, gesunde Ernährung gemäss Schweizer Lebensmittelpyramide alle wichtigen Nährstoffe liefert.»
Zum ersten Mal überhaupt wurden 2022 unter seiner Leitung Daten für die Schweiz zum Ernährungsverhalten erhoben und damit auch zum Verzehr der wichtigen Mikronährstoffe. «Wir essen zu viel Süsses, zu viel Salz und zu viel Fleisch. Aber dafür zu wenig Milchprodukte und zu wenig Früchte und Gemüse», fasst Urs Stalder das Resultat der Befragung zusammen.
Eine ausgewogene, gesunde Ernährung gemäss Schweizer Lebensmittelpyramide liefert alle nötigen oder wichtigen Nährstoffe.
Die empfohlenen Nährstoff-Tagesdosen wurden aber trotzdem bei vielen Vitaminen und Mineralien erreicht. Gewisse Nährstoffe wie Jod, Vitamin B12 und Folsäure wolle man aber im Auge behalten. «Die Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr sind Orientierungswerte», erklärt Urs Stalder, «dass sie nicht überall erreicht werden, ist nicht weiter tragisch».
Der Bedarf hänge von vielen verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel dem Geschlecht, dem Alter, der körperlichen Aktivität oder den Genen ab. Neue Massnahmen oder Empfehlungen braucht es im Moment aber nicht.
Das Geld für Vitamine und Mineralien kann also getrost gespart und in frische Früchte und frisches Gemüse – möglichst saisongerecht und aus der Region – investiert werden.