«Viele Leute sind verunsichert, wissen nicht genau, ob sie einen Arzt aufsuchen sollen oder nicht. Vor allem in der Nacht, wenn die Person Sorge oder Probleme hat, ist sie alleine. Mit der ärztlichen Telefonberatung kann sie sich in erste Linie Unterstützung holen.» Das die Erfahrung von Dr. Roland Bingisser, Stiftungsratspräsident der medizinischen Notrufzentrale (MNZ) in Basel, welche es schon seit über 40 Jahren gibt.
Medizinischer Beratungsboom
Medizinische Call-Center haben sich in der Schweiz in den letzten zehn Jahren etabliert. Krankenversicherungen, Einzel- und Gruppenpraxen, ärztliche Notfalldienste und die Pharmaindustrie nehmen deren Dienstleistungen in Anspruch und bieten diese dann wiederum ihren Kunden, den Patienten an. Hinzu kommen noch jene Organisationen, die neben Notfalldienst und Arztvermittlung auch eine ärztliche Beratung per Telefon anbieten. Über 1.5 Millionen Anrufe wurden im Jahre 2010 getätigt.
Grob zusammengefasst gibt es in der Schweiz zwei verschiedene Systeme:
- Krankenkassenfinanzierte: Medgate, Medi24, Sante24
- Öffentlich Finanzierte (Ärzte/ Spitäler/ Kantone): Ärztefon, Medphone, MNZ, Health Line etc.
Doch auch hier gibt es auch schon wieder Überschneidungen. Medgate zum Beispiel bietet für 100 Franken pro Jahr eine Beratung für Privatpersonen unabhängig von der Krankenversicherung an. Zu Medi24 leiten schon jetzt verschiedene Ärzte ihren Telefondienst in der Nacht um.
Krankenkassenfinanzierte Systeme können gegen 2/3 der Anrufenden abschliessend beraten. Das heisst, ein Arztbesuch wird überflüssig, der Patient erhält Informationen, wie er sich selber helfen kann. Bei den anderen Systemen ist diese Zahl kleiner. Grund: Es gelangen mehr Fragen zur richtigen Arztwahl zur Ärztezentrale oder wo man sich mit dem bestimmten Krankheitsfall melden muss.
Bei den krankenkassenfinanzierten Systemen rufen viele Leute an, um sich in erster Linie beraten zu lassen. Sie sind nicht sicher, was zu tun ist. Die Triage teilt dann den Patienten ein, ob er sofort, später oder gar nicht zum Arzt muss. Zudem gibt es einen kleinen Prozentsatz Versicherte, die aufgrund einer Police mit entsprechender Prämienverbilligung erst hier anrufen müssen.
Im Sinne der Krankenkasse sparen?
Werden die krankenkassenfinanzierten Systeme durch ihre Kunden, die Krankenkassen, nicht auch unter Druck gesetzt, möglichst wenige Leute zum Arzt zu schicken?
Grazia Siliberti, Kommunikationsleiterin von Medi24, verneint: «Die Beratung darf ausschliesslich auf medizinisch-ethischen Kriterien basieren. Das Fachpersonal ist medizinisch geschult, hat über 10 Jahre Praxiserfahrung und ist von den Krankenkassen unabhängig. Das Arztgeheimnis wird gewahrt, jedes Gespräch aufgezeichnet, aufbewahrt und dokumentiert. Patienten extra vom Arzt fernhalten könnten wir uns nicht leisten. Der Patient steht bei uns an erster Stelle.»
Insel-Studie belegt Sicherheit
Besuche auf der Notfallstation wegen Bagatellen sind Alltag und zunehmend ein Problem. Darum wurde mit dem Notfalldienst des Berner Inselspitals und Medi24 eine Studie durchgeführt. Das Resultat: Patienten sind beim telemedizinischen Konsultationszentrum Medi24 mindestens so sicher aufgehoben wie in anderen medizinischen Institutionen.
Das Leistungsangebot ist je nach System und Anbieter verschieden. Bei Medgate besteht die Möglichkeit, bei einer eindeutigen Krankheit direkt ein Rezept an eine Apotheke in der Nähe des Patienten zu senden. Medi24 bietet diesen Service vor allem im dermatologischen Bereich an. Ein ärztliches Zeugnis gibt es bis jetzt noch nicht. «Da muss erst noch der Missbrauch zuverlässig ausgeschlossen werden», so Dr. Andy Fischer, CEO Medgate. «Die Möglichkeit wird aber geprüft.»
Neu eingeführt haben schon die meisten Anbieter die Foto-Diagnostik: Per Mobiltelefon oder Computer wird vor allem bei Hautkrankheiten ein Foto gemacht und dem Dermatologen für eine Diagnose/Beratung zugesendet. Dieser Dienst ist aber nicht überall und für alle kostenlos.
Nicht nur in der Schweiz
In Grossbritannien ist die computerunterstützte Telefontriage «NHS-Direct» seit 2001 landesweit verfügbar. In Dänemark wurden im Zuge der Reform des ambulanten Notfalldienstes medizinische Call-Center etabliert, welche die Verteilung der Patienten auf die jeweiligen Notfallzentren regeln. Im Zuge der Entwicklung einer nationalen eHealth-Infrastruktur wurde dort ein Internet-basierter «Personal Health Record» etabliert, so dass in der Notfallversorgung bereits die medizinische Vorgeschichte des Anrufenden zur Beurteilung herangezogen werden kann.