Die Konzentration im Raum ist greifbar: Rund zwei Dutzend Chirurgen und Orthopädinnen schneiden, bohren und schrauben, um einen komplizierten Oberschenkelbruch mit einer Platte aus Titan zu fixieren. Ihre Arbeitstische sind vollgepackt mit Skalpellen, Bohrköpfen und unzähligen Schrauben in verschiedenen Farben. Da rutscht einem Arzt der Bohrer weg. Bei einer anderen will die Fixierzange nicht halten – und welche dieser vielen Schrauben war nun nochmal die richtige?
Chirurgie ist ein komplexes Handwerk, das gut beherrscht sein will, bevor an einer Patientin oder einem Patienten operiert wird. Deswegen arbeiten die Ärztinnen und Ärzte in dieser Fortbildung auch nicht an richtigen Knochen, sondern an Oberschenkel-Imitaten aus Kunststoff, die mit roten Schaumstoffmuskeln umgeben und einer der Haut ähnelnden Lederimitat-Schicht umhüllt sind.
Jede Chirurgin und jeder Orthopäde, der einmal selbständig operieren will, muss diese Kurse der AO Foundation besucht haben
Was der medizinische Nachwuchs hier bei der AO Foundation in Davos lernt, ist weltweit der Goldstandard der Unfallchirurgie. «Jede Traumatologin und jeder Orthopäde, der einmal selbstständig operieren will, muss diese Kurse der AO Foundation besucht haben. Das gehört einfach dazu», sagt Chirurg und Kursleiter Christian Candrian. Erfunden haben diesen Standard 13 Schweizer Oberärzte vor über 60 Jahren.
Invalide wegen gebrochenem Bein
Die Gruppe junger Oberärzte will die herrschenden Zustände damals nicht mehr akzeptieren: In den 1950er-Jahren konnte ein Knochenbruch ein bitterer Schicksalsschlag sein, vor allem bei einem gebrochenen Bein. Damals werden die Brüche einfach eingegipst und ruhiggestellt. In vielen Fällen führt dies zu lebenslangen Fehlstellungen mit Arbeitsunfähigkeit und Invalidenrente.
Die jungen Ärzte wollen das ändern. Warum sollten sich die Menschen nach einer Verletzung nicht wieder völlig normal bewegen können? Sie gründen 1958 eine Gruppe, die sie ganz pragmatisch «Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen» nennen, kurz AO. Osteosynthese ist die Verbindung von gebrochenen Knochen. Und um diese Verbindung geht es den 13 Männern.
Ihre Idee: Die gebrochenen Knochen mithilfe von Platten und Schrauben so fixieren, dass sie gerichtet und wieder in ihrer ursprünglichen Stellung zusammenwachsen können. Der Ansatz ist zwar nicht neu, aber bisher hatte es an der Umsetzung gehapert.
Standardisierung führt zu medizinischer Revolution
Das sollte sich ändern. Die Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen entwickelten erstmals eine standardisierte Methode, um Knochenbrüche zu behandeln. Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie produziert sie die ersten standardisierten Instrumente.
Die Standardisierung war die eigentliche medizinische Revolution.
Und erstmals entwickelt die AO einheitliche Schulungen, bei denen die medizinischen Fachleute unter Anleitung lernen, die neu entwickelte Operationstechnik samt Instrumentarium korrekt anzuwenden: Für jede erdenkliche Art des Knochenbruchs gibt es Vorgaben, welche Platten, Schrauben und Werkzeuge verwendet werden sollten. So können die Erfolgschancen der damals noch umstrittenen Operationen immer weiter verbessert werden. «Diese Standardisierung war die eigentliche medizinische Revolution», sagt Hubert Steinke, Medizinhistoriker an der Universität Bern.
Das alles wird geübt an Leichen- oder Tierknochen und in ständiger Diskussion der Kursteilnehmenden miteinander. Das ist für diese Zeit erstaunlich, denn das damals geläufige Modell sieht anders aus: Die Ärzte schulen ihre Fertigkeiten durch Abschauen bei den wenigen Koryphäen an den grossen Spitälern und Universitäten. Demzufolge ungeübt stehen die Ärzte danach teils im Operationssaal. Das ändert die Gruppe mit ihren Kursen grundlegend.
Neue Methode hält wissenschaftlicher Prüfung stand
Und es gibt noch einen weiteren Grund, warum die neue Operationsmethode schliesslich zum Erfolg wird: «Die Ärzte legen früh einen Schwerpunkt auf die empirische Forschung. Sie dokumentieren, kontrollieren und analysieren lückenlos alle Operationen, führen Erfahrungen zusammen und werten diese statistisch aus», erklärt Steinke. Kurz: Sie machen aus der chirurgischen Forschung eine wissenschaftliche Disziplin. So können sie zum Beispiel früh zeigen, dass Knochen unter Druck – genau das geschieht, wenn man Knochen mit Platten verschraubt – tatsächlich heilen.
Sie dokumentieren, kontrollieren und analysieren lückenlos alle Operationen.
Trotzdem stehen einige der profilierten Ärzte der damaligen Zeit der neuen Methode skeptisch gegenüber. Vor allem die Tatsache, dass man die Patienten und Patientinnen für die Befestigung der Platten und Schrauben aufschneiden muss, was die Gefahr für Infektionen enorm erhöht, gibt zu bedenken. Und tatsächlich gibt es zu Beginn auch Komplikationen. Die eingesetzten Implantate rosten oder werden falsch eingesetzt. Durch die wissenschaftlichen Ansätze entwickelt die AO aber laufend die Instrumente und die dazu passenden Schulungen weiter. Bis heute.
Schulungen werden zum internationalen Standard
Die Ideen der Gründungsväter stehen auch heute im Zentrum der AO-Kurse. Obwohl das Programm des dreitägigen Kurses dicht gedrängt ist, bleibt den Teilnehmenden die Möglichkeit, ihre Erfahrungen untereinander und mit erfahrenen Chirurgen und Chirurginnen auszutauschen. «Was ich immer wichtig finde, ist die Interaktion mit den Personen von anderen Spitälern,», sagt eine teilnehmende Oberärztin. Ein Assistenzarzt ergänzt: «Man kann die Theorie gleich in die Praxis umsetzen und hat dabei viel Zeit zu üben».
Knochen reparieren können nicht alle gleich gut.
Das bestätigt auch Kursleiter Christian Candrian: «Knochen reparieren können nicht alle gleich gut. Da braucht man eine sehr gute Schule». Richtig gut werden sei dann auch eine riesige Herausforderung. Doch seien die Kurse heutzutage fast perfekt, um die zukünftigen Chirurginnen und Orthopäden auf ihre Zukunft vorzubereiten.
Anfangs fanden die Kurse ausschliesslich in der Schweiz statt. Doch dank dem Erfolg der Methode und des dadurch entstandenen Interesses wurden sie schnell zum Exportschlager. Bereits in den 1960er-Jahren fand ein erster Kurs in Nordamerika statt. Heute werden weltweit über 800 Kurse durchgeführt, die jährlich von knapp 100'000 medizinischen Fachpersonen besucht werden. Der grösste und wichtigste findet aber nach wie vor in Davos statt.
Am Ende der Übung haben es alle geschafft, die Platte korrekt mit dem künstlichen Knochen zu verschrauben. Die benutzten Werkzeuge liegen ungeordnet auf den Übungstischen. Es ist plötzlich still im Raum. Und wieder hat die AO Foundation – nach dem Vorbild seiner Gründer – eine Gruppe von Chirurgen und Orthopädinnen mitten in den Schweizer Bergen auf ihre Zukunft in den Operationssälen vorbereitet.