Das Coronavirus hat Doris Spirig nicht aus der Bahn geworfen. Schutzmassnahmen wie Distanz halten, Hände waschen und Masken tragen kennt sie bereits. Sie lebte mit ihrer Familie für ein paar Jahre in Hongkong als 2009 die Schweinegrippe ausbrach.
Die Menschen dort waren bereits vorbereitet, sechs Jahre zuvor hatte schon SARS in der Stadt gewütet. «Die Massnahmen waren für niemanden speziell. Die Leute haben das alle schon einmal mitgemacht», sagt Doris Spirig. «Das spürte man, da war eine Gelassenheit.»
Ähnlich ging es ihr, als vor zwei Monaten klar war: Das Coronavirus ist auch in der Schweiz angekommen. «Natürlich haben wir mit Besorgnis Richtung Italien geschaut. Aber für uns war klar, die Massnahmen machen wir jetzt auch wieder. Und dann kommt es gut.» sagt Doris Spirig, «Wir hatten keine Angst.»
Nur wenige Erinnerungen
Die meisten Schweizer hingegen konnten beim Corona-Ausbruch nicht auf Erfahrungen mit Pandemien zurückgreifen. Denn die letzte grosse Epidemie liegt über 100 Jahre zurück.
Die Spanische Grippe von 1918 hat in der Schweiz zwar rund 25‘000 Tote gefordert. Trotzdem ging sie schnell vergessen, weiss der Medizinhistoriker Flurin Condrau: «Erinnerung ist immer ein Vorgang, an dem Leute sich an etwas erinnern wollen.»
Während sich die Bevölkerung eher an das Ende des Ersten Weltkrieges erinnerte, erinnerte sich die Medizin eher an Erfolge als an Misserfolge. «Die Medizin hatte in den 1920er-Jahren ein aktives Interesse daran, zu vergessen», sagt Flurin Condrau. «Weil viel geleistet hat sie in der Grippebekämpfung nicht.»
Alles im Griff
Die Menschen fürchteten sich damals sehr vor Infektionskrankheiten. Vor allem vor der Tuberkulose. Sie war bis zum Zweiten Weltkrieg die häufigste Todesursache bei Erwachsenen. Durch das Wundermittel Antibiotika verlor diese Krankheit jedoch mehr und mehr von ihrem Schrecken. Die Verantwortlichen begannen, die Bevölkerung mit der Botschaft zu beruhigen, Infektionskrankheiten bald unter Kontrolle zu haben.
So lautete zum Beispiel der Tenor während den weltweiten Grippeepidemien von 1957 und 1968: Wir haben alles im Griff. Tatsächlich verlaufen diese Epidemien glimpflich. Was wohl mehr dem Glück zuzuschreiben war.
Die Medizin orientierte sich damals sich komplett neu. Chronische Krankheiten wie Krebs, Herz-Kreislauf lösen Infektionen als Thema ab. «Infektionen gingen richtiggehend vergessen», sagt Flurin Condrau. «In der Medizin glaubte man ab den 1950er-Jahren, dass Infektionen vorbei sind. Dass es sich nicht lohnt, sich in Infektionskrankheiten zu qualifizieren. Man konzentrierte sich auf neue Themen, auf neue Probleme.»
Aus Erfahrungen lernen
Doch Infektionen verschwanden nie. 2003 verängstigte SARS die Welt. 2009 war es die Schweinegrippe. Die Furcht vor der Schweinegrippe war gross – auch in der Schweiz. Doch nur wenige Menschen im Westen erkrankten. Kritik wurde laut, unnötig Angst geschürt und unnötig Steuergelder für das Medikament Tamiflu verschleudert zu haben. Die Schweinegrippe förderte eher ein Misstrauen in die Behörden.
Hat man in der Schweiz durch die Erfahrungen mit der Schweinegrippe etwas zögerlich reagiert? «Das ist schwierig zu beweisen, aber sicher möglich», sagt Matthias Egger, Leiter der Covid-19-Taskforce des Bundes. «Die Schweiz hatte viele Jahre keine Pandemie mehr. Das Bewusstsein, dass so etwas passieren kann und wird, ist etwas verschwunden.»
Jetzt haben alle erfahren, dass es passieren kann und dass die Distanz- und Hygieneregeln nützen. Diese Krise wird nicht so schnell vergessen gehen, sie wird im kollektiven Gedächtnis haften bleiben. Ob sie auch unser Verhalten ändern wird, bleibt offen.