Stellen Sie sich vor, Sie haben in Ihrer Kindheit eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden. Sie waren vollständig gelähmt – und doch haben Sie sich ins Leben zurückgekämpft, durch mitunter schmerzhafte Therapien. Sie haben wieder gehen gelernt, die Schule absolviert und einen Beruf ergriffen.
Jahrzehntelang waren Sie symptomfrei. Sie denken gar nicht mehr an die Krankheit, die Sie als Kind einmal hatten. Und dann kommen die Beschwerden eines Tages zurück. Schleichend, unaufhaltsam. Und Sie können nichts dagegen tun.
Das sind die Spätfolgen von Polio, auch Kinderlähmung genannt. Eine Krankheit, die vergessen wurde – die jedoch für viele Menschen Realität ist.
Polioepidemien und die Auswirkung einer Impfung
Polio ist eine Infektionskrankheit und trifft vor allem Kinder. Bei einem unter hundert Infizierten gelangt das Virus ins Rückenmark und lähmt Arme und Beine. Bei manchen ist das Virus tödlich.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts kommt Poliomyelitis, wie die Krankheit vollständig heisst, nur endemisch vor. Das heisst, sie ist auf bestimmte Länder und Regionen begrenzt. Ab dann tritt sie epidemisch auf und trifft jedes Jahr Tausende von Menschen weltweit.
Auch die Schweiz wird im 20. Jahrhundert regelmässig von Polioepidemien heimgesucht. Der erste Ausbruch wird 1901 in der Ostschweiz beschrieben, im thurgauischen Lommis. Während der Kriegsjahre bis weit in die 1950er-Jahre versetzt Polio das Land regelmässig in Angst und Schrecken. Das ändert sich 1957, als die Schweiz die in den USA entwickelte Polioimpfung einführt. Ab dann nehmen die Erkrankungen rapide ab.
Für manche in diese Zeit Geborenen jedoch kommt die Impfung just zu spät: Sie werden in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre angesteckt, als das Virus hierzulande besonders stark grassiert. Heute leiden viele am sogenannten Post-Polio-Syndrom (PPS). Der Begriff wird 1984 an einem internationalen Kongress zum Thema geprägt, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt PPS in ihrer Krankheitsklassifikation ICD-10 unter einem eigenen Code.
In der Öffentlichkeit jedoch ist Post-Polio wenig bekannt. In der Schweiz leben nach Angaben der Schweizer Vereinigung der Gelähmten (SVG) rund 7000 Polio-Überlebende, ein Grossteil von ihnen – die genaue Prävalenz ist nicht bekannt – leidet heute am PPS.
Drei Betroffene und ihre Geschichten
Christian Bieri, geboren in Ormalingen BL, erkrankte 1955 an Polio. Er war damals neun Jahre alt. «Es begann mit grippeähnlichen Symptomen – Halsweh, hohes Fieber und Nackenschmerzen», erzählt der heute 79-Jährige. «Eines Morgens konnte ich nicht mehr aufstehen, die Beine waren bereits gelähmt.» Der eilends herbeigerufene Hausarzt beschied den Eltern, es sei die Kinderlähmung. Im Dorf gab es bereits Fälle.
Der Bub wurde ins Kinderspital Basel gebracht und isoliert. Wenn die Eltern ihn besuchten, mussten sie vor dem Zimmer an einer Glaswand stehen. «Sie konnten mir nur zuwinken, denn es gab damals noch keine Sprechverbindung zu den Kinderzimmern. Das war schlimm für mich.»
Ein halbes Jahr verbrachte Christian Bieri stationär im Kinderspital. Danach musste ihn seine Mutter zwei- bis dreimal wöchentlich von Ormalingen mit dem Zug nach Basel begleiten, zur Unterwassermassage im Kinderspital: ein Wasserstrahl, der auf die Beine gerichtet wurde. «Satanisch schmerzhaft» sei das gewesen, erzählt er.
Ich nehme es, wie es kommt, und versuche, das Beste daraus zu machen.
Christian Bieri musste in der Schule die dritte Klasse wiederholen, dabei war er eine Zeit lang auf den Rollstuhl angewiesen. Doch er erholte sich rasch. Er schloss die Schule ab, absolvierte eine Lehre als Eisenwarenhändler, hatte ein erfolgreiches Berufsleben. An Polio dachte er nicht mehr. «Ich hatte keine Beschwerden, es ging mir jahrzehntelang gut. Bis im Jahr 2002, als die Sache mit PPS anfing.»
Ein Nervenschmerz im linken Bein plagte den inzwischen 56-Jährigen. Eine neurologische Untersuchung am Universitätsspital Basel, bei der die elektrische Spannung in den betroffenen Muskeln gemessen wurde, ergab die Diagnose Post-Polio-Syndrom.
Bis zu seiner Pensionierung arbeitete Christian Bieri dann in einem 50-Prozent-Pensum. Sein körperlicher Zustand hat sich seit der Diagnose stetig verschlechtert. Heute leidet er an Gleichgewichtsstörungen, kann seinen Kopf aus eigener Kraft kaum halten, spricht schleppend und hat Mühe mit den Beinen. «Ich gehe davon aus, dass ich in absehbarer Zeit im Rollstuhl sitzen werde», sagt er. Das belaste ihn nicht. «Ich nehme es, wie es kommt, und versuche, das Beste daraus zu machen.»
Das Leben gepackt – trotz Polio
Theres Peyer war fünf Jahre alt, als sie sich mit dem Poliovirus ansteckte. «Es war im Sommer 1951, damals gab es in Bern eine grosse Epidemie. Zuerst war es wie eine Grippe, nach einer Woche traten plötzlich Lähmungen auf.» Sie wurde in Bern ins Spital eingeliefert. Zusammen mit ihrer Schwester – «sie hatte es auch.»
Ich bin während 50 Jahren an Stöcken gelaufen und trug am rechten Bein immer eine Schiene, denn dieses war stärker gelähmt als das linke.
Das Virus befiel bei beiden Schwestern das Rückenmark, was die Muskulatur in Armen und Beinen lähmte und enorme Gliederschmerzen auslöste. Theres Peyer erinnert sich an Kinder, bei denen auch die Atemmuskulatur betroffen war. «Für solche Fälle gab es im Spital die Eiserne Lunge – riesige Maschinen, in die die Betroffenen bis zum Hals eingeschlossen und so beatmet wurden.» Sie und ihre Schwester hätten die Eiserne Lunge gottlob nicht gebraucht.
Theres Peyer, heute 78 Jahre alt, hat zeitlebens unter Lähmungen gelitten. «Ich bin während 50 Jahren an Stöcken gelaufen und trug am rechten Bein immer eine Schiene, denn dieses war stärker gelähmt als das linke. Auch der rechte Arm und die Rückenmuskulatur waren von Lähmungen betroffen. Mit 50 musste ich mich wegen einer starken Verkrümmung der Wirbelsäule operieren lassen.»
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Bild 1 von 4. Die Ärztin Theres Peyer (78) engagiert sich in der Schweizerischen Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom. Ihr grosses Hobby ist das Reisen. Bildquelle: zVg.
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Bild 2 von 4. Mit dem «SwissTrack», einem Zuggerät für den Rollstuhl, ist Theres Peyer oft in den Bergen unterwegs. Bildquelle: zVg.
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Bild 3 von 4. Auch Bethlehem im Westjordanland hat die Reisefreudige besucht. Wo sie nicht weiterkommt, lässt sie sich schon mal von Soldaten die Treppe hoch helfen. Bildquelle: zVg.
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Bild 4 von 4. Times Square, New York. Hier war Theres Peyer zusammen mit ihrem Chor. Bildquelle: zVg.
Trotz dieser Einschränkungen packte Theres Peyer das Leben: Sie studierte Medizin und arbeitete als Internistin lange auf der Strahlentherapie im Inselspital, später im Lindenhof Spital in Bern. «Durch 50 Jahre Gehen an Stöcken und zehn Jahre als Rollstuhlfahrerin hatte ich starke Armen bekommen», erzählt sie.
In den Wechseljahren macht sich bei ihr das Post-Polio-Syndrom bemerkbar, hauptsächlich durch Muskelschwäche: Auch in ihren vergleichsweise starken Armen erleidet sie allmählich einen Kraftverlust. Heute ist Theres Peyer auf den Rollstuhl angewiesen. Seit ihrer Pensionierung engagiert sie sich in der Schweizerischen Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom, einer Selbsthilfegruppe, die regelmässige Fachtagungen für Betroffene organisiert.
Theres Peyer bedauert, dass Polio heute im Medizinstudium nur noch marginal behandelt werde. «Nachdem Polio in der Schweiz Anfang der 1990er-Jahre für ausgerottet erklärt wurde, hat das Thema an den Universitäten an Bedeutung verloren. Um die Spätfolgen kümmerte sich die Forschung in der Folge nur wenig. Es gibt Fachpersonen, die das Post-Polio-Syndrom als eigenständige (Wieder-)Erkrankung heute noch anzweifeln und Betroffene als Simulanten hinstellen.» Das sei sehr schade und werde den Tatsachen nicht gerecht.
Wenn Post-Polio mitten im Leben einschlägt
Martin Stokar erkrankte im Herbst 1956 an Polio, im Alter von 13 Monaten. Die Geschichte rekonstruiert der heute bald 70-Jährige aus den Erzählungen seiner Familie.
«Sowohl meine Eltern als auch meine zwei älteren Brüder waren infiziert und zeigten Grippesymptome. Ich bin dann eines Morgens vollständig gelähmt aufgewacht.» Das Haus – ein Pfarrhaushalt im Zürcher Oberland, der im Dorf lokale Prominenz genoss – wurde von den Behörden unter Quarantäne gestellt, der akut erkrankte Jüngste ins Kinderspital Zürich eingeliefert.
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Bild 1 von 4. Martin Stokar (70): «Ich lasse mich von Polio nicht bestimmen.». Bildquelle: zVg.
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Bild 2 von 4. Nach der Akuterkrankung 1956 verbrachte Martin Stokar zweieinhalb Jahre in der Aussenstation des Kinderspitals Zürich in Affoltern am Albis. Bildquelle: zVg.
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Bild 3 von 4. Liebevolle Krankenschwestern. Der Umgang mit anderen Kindern jedoch kam in der Spital-Umgebung zu kurz. Bildquelle: zVg.
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Bild 4 von 4. Als Geograf ist Martin Stokar gerne und oft in den Bergen gewesen. Heute schafft er nur noch Strecken im Flachen. Bildquelle: zVg.
Die Zeit vom Herbst 1956 bis Frühling 1959 verbrachte er in der Aussenstation des «Chischpi» für poliobetroffene Kinder in Affoltern am Albis. «An diese zweieinhalb Jahre habe ich keine Erinnerungen», erzählt Martin Stokar. «Laut meinen Eltern habe ich nach der Heimkehr in den ersten Monaten deutliche Hinweise auf Hospitalismus gezeigt: Verhaltensauffälligkeiten wegen fehlender sozialer Interaktion, Erlebnisarmut – ich kannte praktisch keine Tiere –, ich hatte ganz klar einen Entwicklungsrückstand.» Den habe er aber rasch aufgeholt.
Fieserweise betrifft diese neuromuskuläre Krankheit genau diejenigen Muskeln, die sich am besten erholt haben, das heisst die stärksten Muskeln werden geschwächt.
In den Folgejahren kehrte er regelmässig für mehrwöchige Therapieaufenthalte nach Affoltern zurück. In der Rückschau für Martin Stokar eine glückliche Zeit: «Es gab andauernd ein grosses Hallo, wir Kinder bekamen viel Aufmerksamkeit – die mir gefallen hat –, wir durften viel spielen, immer mit dem Ziel: den aufrechten Gang zu erlernen.» Dies sei ihm «recht gut» gelungen, mithilfe von Schienen. Mit der Pubertät allerdings habe er diese einmal in den Eimer geschmissen.
Martin Stokar bezeichnet sich als resilienten, eigenwilligen Charakter. Wider die Ratschläge seines Umfelds studierte er Geografie. Sein Zustand stabilisierte sich. Und trotz teilweiser Behinderung absolvierte er eine erfolgreiche Berufskarriere als Experte für Regionalentwicklung und Wissensmanagement.
Dann der Rückschlag: Bereits Anfang 40 stellt er bei sich erste Symptome von Post-Polio fest, mit neuerlichem Muskelschwund, Muskelzittern und Müdigkeitsattacken. «Fieserweise betrifft diese neuromuskuläre Krankheit genau diejenigen Muskeln, die sich am besten erholt haben, das heisst die stärksten Muskeln werden geschwächt.»
Die Folgen bei ihm: Schwierigkeiten beim Gehen, Treppensteigen oder beim Anziehen. Martin Stokar bemerkt eine schleichende Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit mitten im aktiven Leben. Früher habe er wandern können, sei oft in den Bergen gewesen. «Heute schaffe ich im Flachen vielleicht eine Stunde langsames Gehen.»
Dies macht ihm emotional zu schaffen, bis heute. Er vergleicht Post-Polio mit einem Vorhang, der sich manchmal schliesse und ihn zwinge, sich mit seinen Einschränkungen auseinanderzusetzen. «Aber das ist nicht das Leben», betont er. «Ich bin an vielem interessiert, das mit dieser Behinderung nichts zu tun hat.» Am wohlsten sei ihm, wenn sie keine Rolle spiele.