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Spätfolgen der Infektion Post-Polio: Wenn die Kinderlähmung sich wieder meldet

Am 12. April 1955 wurde in den USA die Polioimpfung zugelassen. Seither hat die Kinderlähmung ihren Schrecken von einst verloren. Trotzdem ist Polio nicht vorbei: Weltweit leiden Unzählige an den Nachfolgeerscheinungen der Krankheit. Drei Betroffene in der Schweiz erzählen ihre Geschichte.

Stellen Sie sich vor, Sie haben in Ihrer Kindheit eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden. Sie waren vollständig gelähmt – und doch haben Sie sich ins Leben zurückgekämpft, durch mitunter schmerzhafte Therapien. Sie haben wieder gehen gelernt, die Schule absolviert und einen Beruf ergriffen.

Jahrzehntelang waren Sie symptomfrei. Sie denken gar nicht mehr an die Krankheit, die Sie als Kind einmal hatten. Und dann kommen die Beschwerden eines Tages zurück. Schleichend, unaufhaltsam. Und Sie können nichts dagegen tun.

Das sind die Spätfolgen von Polio, auch Kinderlähmung genannt. Eine Krankheit, die vergessen wurde – die jedoch für viele Menschen Realität ist.

Polioepidemien und die Auswirkung einer Impfung

Polio ist eine Infektionskrankheit und trifft vor allem Kinder. Bei einem unter hundert Infizierten gelangt das Virus ins Rückenmark und lähmt Arme und Beine. Bei manchen ist das Virus tödlich.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts kommt Poliomyelitis, wie die Krankheit vollständig heisst, nur endemisch vor. Das heisst, sie ist auf bestimmte Länder und Regionen begrenzt. Ab dann tritt sie epidemisch auf und trifft jedes Jahr Tausende von Menschen weltweit.

Kurze Geschichte der Polioimpfung

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Am 12. April 1955 wurde in den USA der erste Polioimpfstoff zugelassen, den der US-Arzt Jonas Salk aus abgetöteten Viren entwickelt hatte. Ab 1957 wurde der «Salk-Impfstoff» auch in der Schweiz eingesetzt, per Spritze. 1961 stellte man auf die Schluckimpfung um, die der Virologe Albert Sabin entwickelt hatte. Dieser orale Impfstoff basiert auf abgeschwächten Lebendviren und ruft eine stärkere Immunantwort hervor als der Totimpfstoff.

Seit 2001 wird die Schluckimpfung in der Schweiz nicht mehr empfohlen, da durch die Lebendviren in sehr seltenen Fällen (1:400’000 – 1:750’000 laut Schätzungen) Polio ausgelöst wird. Andere Länder – vor allem in Afrika – setzen nach wie vor auf die Schluckimpfung.

In der Schweiz gehört die Polioimpfung gemäss Schweizerischem Impfplan zu den Basisimpfungen. Seit 2019 gilt ein Impfschema mit vier Dosen: eine Grundimmunisierung im Alter von 2, 4 und 12 Monaten sowie eine Auffrischimpfung im Alter zwischen 4 und 7 Jahren. Die Polioimpfrate ist mit schweizweit 95 Prozent vergleichsweise hoch. Nur der Kanton Appenzell Innerrhoden schert mit 87 Prozent nach unten aus.

Könnte Polio wieder ausbrechen?

Die Wahrscheinlichkeit, dass Polio in der Schweiz wieder ausbrechen könnte, ist gemäss Fachleuten und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sehr gering. Trotzdem bereitet sich das BAG für den Ernstfall vor: In manchen Weltgegenden (Pakistan und Afghanistan) ist die Urform von Polio mit dem sogenannten Wildtypus des Virus endemisch. Zudem haben sich aus dem oralen Impfstoff sogenannte Impfviren entwickelt, die durch die globale Mobilität weltweit zirkulieren, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in der Schweiz. Das BAG schreibt: «Solange … das Poliovirus nicht vollständig eliminiert ist, bleibt das Risiko einer Wiedereinführung durch wilde Polioviren oder vom Impfstoff abgeleitete Polioviren in nicht-endemische Gebiete bestehen.»

Auch die Schweiz wird im 20. Jahrhundert regelmässig von Polioepidemien heimgesucht. Der erste Ausbruch wird 1901 in der Ostschweiz beschrieben, im thurgauischen Lommis. Während der Kriegsjahre bis weit in die 1950er-Jahre versetzt Polio das Land regelmässig in Angst und Schrecken. Das ändert sich 1957, als die Schweiz die in den USA entwickelte Polioimpfung einführt. Ab dann nehmen die Erkrankungen rapide ab.

Für manche in diese Zeit Geborenen jedoch kommt die Impfung just zu spät: Sie werden in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre angesteckt, als das Virus hierzulande besonders stark grassiert. Heute leiden viele am sogenannten Post-Polio-Syndrom (PPS). Der Begriff wird 1984 an einem internationalen Kongress zum Thema geprägt, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt PPS in ihrer Krankheitsklassifikation ICD-10 unter einem eigenen Code.

In der Öffentlichkeit jedoch ist Post-Polio wenig bekannt. In der Schweiz leben nach Angaben der Schweizer Vereinigung der Gelähmten (SVG) rund 7000 Polio-Überlebende, ein Grossteil von ihnen – die genaue Prävalenz ist nicht bekannt – leidet heute am PPS.

Drei Betroffene und ihre Geschichten

Christian Bieri, geboren in Ormalingen BL, erkrankte 1955 an Polio. Er war damals neun Jahre alt. «Es begann mit grippeähnlichen Symptomen – Halsweh, hohes Fieber und Nackenschmerzen», erzählt der heute 79-Jährige. «Eines Morgens konnte ich nicht mehr aufstehen, die Beine waren bereits gelähmt.» Der eilends herbeigerufene Hausarzt beschied den Eltern, es sei die Kinderlähmung. Im Dorf gab es bereits Fälle.

Portraitaufnahme von einem Mann mit kariertem Hemd und einer Stütze für den Kopf.
Legende: Christian Bieri hatte während 47 Jahren keine Symptome von Kinderlähmung mehr. Dann kehrten die Beschwerden zurück. 2002 erhielt er die Diagnose Post-Polio-Syndrom. Seither hat sich der Gesundheitszustand des heute 79-Jährigen stetig verschlechtert. zVg/Arthur Scheuermeier

Der Bub wurde ins Kinderspital Basel gebracht und isoliert. Wenn die Eltern ihn besuchten, mussten sie vor dem Zimmer an einer Glaswand stehen. «Sie konnten mir nur zuwinken, denn es gab damals noch keine Sprechverbindung zu den Kinderzimmern. Das war schlimm für mich.»

Ein halbes Jahr verbrachte Christian Bieri stationär im Kinderspital. Danach musste ihn seine Mutter zwei- bis dreimal wöchentlich von Ormalingen mit dem Zug nach Basel begleiten, zur Unterwassermassage im Kinderspital: ein Wasserstrahl, der auf die Beine gerichtet wurde. «Satanisch schmerzhaft» sei das gewesen, erzählt er.

Ich nehme es, wie es kommt, und versuche, das Beste daraus zu machen.
Autor: Christian Bieri Post-Polio-Betroffener

Christian Bieri musste in der Schule die dritte Klasse wiederholen, dabei war er eine Zeit lang auf den Rollstuhl angewiesen. Doch er erholte sich rasch. Er schloss die Schule ab, absolvierte eine Lehre als Eisenwarenhändler, hatte ein erfolgreiches Berufsleben. An Polio dachte er nicht mehr. «Ich hatte keine Beschwerden, es ging mir jahrzehntelang gut. Bis im Jahr 2002, als die Sache mit PPS anfing.»

Ein Nervenschmerz im linken Bein plagte den inzwischen 56-Jährigen. Eine neurologische Untersuchung am Universitätsspital Basel, bei der die elektrische Spannung in den betroffenen Muskeln gemessen wurde, ergab die Diagnose Post-Polio-Syndrom.

Bis zu seiner Pensionierung arbeitete Christian Bieri dann in einem 50-Prozent-Pensum. Sein körperlicher Zustand hat sich seit der Diagnose stetig verschlechtert. Heute leidet er an Gleichgewichtsstörungen, kann seinen Kopf aus eigener Kraft kaum halten, spricht schleppend und hat Mühe mit den Beinen. «Ich gehe davon aus, dass ich in absehbarer Zeit im Rollstuhl sitzen werde», sagt er. Das belaste ihn nicht. «Ich nehme es, wie es kommt, und versuche, das Beste daraus zu machen.»

Das Leben gepackt – trotz Polio

Theres Peyer war fünf Jahre alt, als sie sich mit dem Poliovirus ansteckte. «Es war im Sommer 1951, damals gab es in Bern eine grosse Epidemie. Zuerst war es wie eine Grippe, nach einer Woche traten plötzlich Lähmungen auf.» Sie wurde in Bern ins Spital eingeliefert. Zusammen mit ihrer Schwester – «sie hatte es auch.»

Ich bin während 50 Jahren an Stöcken gelaufen und trug am rechten Bein immer eine Schiene, denn dieses war stärker gelähmt als das linke.
Autor: Theres Peyer Post-Polio-Betroffene

Das Virus befiel bei beiden Schwestern das Rückenmark, was die Muskulatur in Armen und Beinen lähmte und enorme Gliederschmerzen auslöste. Theres Peyer erinnert sich an Kinder, bei denen auch die Atemmuskulatur betroffen war. «Für solche Fälle gab es im Spital die Eiserne Lunge – riesige Maschinen, in die die Betroffenen bis zum Hals eingeschlossen und so beatmet wurden.» Sie und ihre Schwester hätten die Eiserne Lunge gottlob nicht gebraucht.

Mehrere Menschen liegen im Spital in zylinderförmigen Geräten und werden von Ärztinnen und Ärzten betreut.
Legende: Diese Szene spielte sich am 16. August 1955 in der Polio-Notfallstation des Haynes Memorial Hospital in Boston (USA) ab. Sie zeigt jene Opfer, die in den Beatmungsgeräten der «Eisernen Lunge» behandelt werden mussten. KEYSTONE/AP Photo/STR

Theres Peyer, heute 78 Jahre alt, hat zeitlebens unter Lähmungen gelitten. «Ich bin während 50 Jahren an Stöcken gelaufen und trug am rechten Bein immer eine Schiene, denn dieses war stärker gelähmt als das linke. Auch der rechte Arm und die Rückenmuskulatur waren von Lähmungen betroffen. Mit 50 musste ich mich wegen einer starken Verkrümmung der Wirbelsäule operieren lassen.»

Trotz dieser Einschränkungen packte Theres Peyer das Leben: Sie studierte Medizin und arbeitete als Internistin lange auf der Strahlentherapie im Inselspital, später im Lindenhof Spital in Bern. «Durch 50 Jahre Gehen an Stöcken und zehn Jahre als Rollstuhlfahrerin hatte ich starke Armen bekommen», erzählt sie.

In den Wechseljahren macht sich bei ihr das Post-Polio-Syndrom bemerkbar, hauptsächlich durch Muskelschwäche: Auch in ihren vergleichsweise starken Armen erleidet sie allmählich einen Kraftverlust. Heute ist Theres Peyer auf den Rollstuhl angewiesen. Seit ihrer Pensionierung engagiert sie sich in der Schweizerischen Interessengemeinschaft für das Post-Polio-Syndrom, einer Selbsthilfegruppe, die regelmässige Fachtagungen für Betroffene organisiert.

Theres Peyer bedauert, dass Polio heute im Medizinstudium nur noch marginal behandelt werde. «Nachdem Polio in der Schweiz Anfang der 1990er-Jahre für ausgerottet erklärt wurde, hat das Thema an den Universitäten an Bedeutung verloren. Um die Spätfolgen kümmerte sich die Forschung in der Folge nur wenig. Es gibt Fachpersonen, die das Post-Polio-Syndrom als eigenständige (Wieder-)Erkrankung heute noch anzweifeln und Betroffene als Simulanten hinstellen.» Das sei sehr schade und werde den Tatsachen nicht gerecht.

Wenn Post-Polio mitten im Leben einschlägt

Martin Stokar erkrankte im Herbst 1956 an Polio, im Alter von 13 Monaten. Die Geschichte rekonstruiert der heute bald 70-Jährige aus den Erzählungen seiner Familie.

«Sowohl meine Eltern als auch meine zwei älteren Brüder waren infiziert und zeigten Grippesymptome. Ich bin dann eines Morgens vollständig gelähmt aufgewacht.» Das Haus – ein Pfarrhaushalt im Zürcher Oberland, der im Dorf lokale Prominenz genoss – wurde von den Behörden unter Quarantäne gestellt, der akut erkrankte Jüngste ins Kinderspital Zürich eingeliefert.

Die Zeit vom Herbst 1956 bis Frühling 1959 verbrachte er in der Aussenstation des «Chischpi» für poliobetroffene Kinder in Affoltern am Albis. «An diese zweieinhalb Jahre habe ich keine Erinnerungen», erzählt Martin Stokar. «Laut meinen Eltern habe ich nach der Heimkehr in den ersten Monaten deutliche Hinweise auf Hospitalismus gezeigt: Verhaltensauffälligkeiten wegen fehlender sozialer Interaktion, Erlebnisarmut – ich kannte praktisch keine Tiere –, ich hatte ganz klar einen Entwicklungsrückstand.» Den habe er aber rasch aufgeholt.

Fieserweise betrifft diese neuromuskuläre Krankheit genau diejenigen Muskeln, die sich am besten erholt haben, das heisst die stärksten Muskeln werden geschwächt.
Autor: Martin Stokar Post-Polio-Betroffener

In den Folgejahren kehrte er regelmässig für mehrwöchige Therapieaufenthalte nach Affoltern zurück. In der Rückschau für Martin Stokar eine glückliche Zeit: «Es gab andauernd ein grosses Hallo, wir Kinder bekamen viel Aufmerksamkeit – die mir gefallen hat –, wir durften viel spielen, immer mit dem Ziel: den aufrechten Gang zu erlernen.» Dies sei ihm «recht gut» gelungen, mithilfe von Schienen. Mit der Pubertät allerdings habe er diese einmal in den Eimer geschmissen.

Martin Stokar bezeichnet sich als resilienten, eigenwilligen Charakter. Wider die Ratschläge seines Umfelds studierte er Geografie. Sein Zustand stabilisierte sich. Und trotz teilweiser Behinderung absolvierte er eine erfolgreiche Berufskarriere als Experte für Regionalentwicklung und Wissensmanagement.

Post-Polio-Syndrom: vieles unbekannt

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Das Post-Polio-Syndrom, kurz PPS, ist durch Muskelschmerzen, Muskelschwäche und chronische Müdigkeit gekennzeichnet. Die Krankheit tritt als Spätfolge einer Poliomyelitisinfektion auf – mitunter viele Jahrzehnte später. Da das Poliovirus hauptsächlich das zentrale Nervensystem angreift, ist auch PPS als neurologische Krankheit zu bezeichnen.

Auftreten

Am häufigsten tritt das PPS zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf. Der früheste Zeitpunkt für das Auftreten ist rund 15 Jahre nach der Primärinfektion im Kleinkindalter. Während die Poliomyelitis klar auf einen Befall der Alpha-Motoneuronen (die Motorik steuernden Nervenzellen im Gehirn) zurückzuführen ist, sind die Ursachen für das PPS bis heute noch nicht umfassend aufgeklärt.

Überbelastete Neuronen

Als sehr wahrscheinlich gilt eine permanente Überbelastung derjenigen Neuronen, die während der kindlichen Infektion nicht untergegangenen sind. Eine Kombination aus psychologischem Stress, permanenter Überbeanspruchung (durch das Fehlen der durch die Poliomyelitis untergegangenen Nervenzellen) und Stoffwechselstörungen lässt die Neuronen zugrunde gehen.

Klinischer Verlauf

Nach überstandener Infektion durch das Poliovirus nimmt die muskuläre Kraft meistens wieder zu und bleibt über einen langen Zeitraum konstant. Kommt es viele Jahre später zu einer allmählichen Verminderung der Muskelkraft, ist dies ein eindeutiger Hinweis auf den Beginn des PPS. Können andere Ursachen für das Nachlassen von Kraft und Ausdauer ausgeschlossen werden, ist von dem PPS auszugehen.

Dabei sind meist die Muskeln betroffen, die während der früheren Poliomyelitis ebenfalls erkrankt waren, sich aber im Anschluss wieder gut erholt haben. Es können aber auch Muskelpartien erkranken, die bei der Virusinfektion kaum oder gar nicht involviert waren. Zum Prozess der PPS gehört auch eine langsam fortschreitende Abnahme der Skelettmuskulatur. Ungefähr ein Prozent der Gesamtmuskelmasse geht pro Jahr verloren.

Quelle: DocCheck Flexikon

Dann der Rückschlag: Bereits Anfang 40 stellt er bei sich erste Symptome von Post-Polio fest, mit neuerlichem Muskelschwund, Muskelzittern und Müdigkeitsattacken. «Fieserweise betrifft diese neuromuskuläre Krankheit genau diejenigen Muskeln, die sich am besten erholt haben, das heisst die stärksten Muskeln werden geschwächt.»

Die Folgen bei ihm: Schwierigkeiten beim Gehen, Treppensteigen oder beim Anziehen. Martin Stokar bemerkt eine schleichende Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit mitten im aktiven Leben. Früher habe er wandern können, sei oft in den Bergen gewesen. «Heute schaffe ich im Flachen vielleicht eine Stunde langsames Gehen.»

Dies macht ihm emotional zu schaffen, bis heute. Er vergleicht Post-Polio mit einem Vorhang, der sich manchmal schliesse und ihn zwinge, sich mit seinen Einschränkungen auseinanderzusetzen. «Aber das ist nicht das Leben», betont er. «Ich bin an vielem interessiert, das mit dieser Behinderung nichts zu tun hat.» Am wohlsten sei ihm, wenn sie keine Rolle spiele.

Echo der Zeit, 23.4.2025, 18:00 Uhr

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