Haben Sie zuletzt den Lift oder die Treppe genommen? Wer sich bei der Frage ertappt fühlt, ist mit dem schlechten Gewissen nicht allein. Jede vierte Person in der Schweiz bewegt sich zu wenig – mit absehbaren Folgen für die Gesundheit.
Faul sein ist ein Urinstinkt
«Faul sein liegt in unseren Genen», ist Sabina Ruff überzeugt. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und Expertin für öffentliche Gesundheit. Seit 20 Jahren ist sie in der Bewegungsförderung tätig. In der Geschichte hätten wir Menschen haushälterisch mit unseren Energiereserven umgehen müssen – Nahrung sei nicht im Überfluss vorhanden gewesen. Der Instinkt half uns damals, unnötige körperliche Aktivitäten zu vermeiden. Denn wenn Nahrungsmittel knapp sind, spart dies Energie und sichert so das Überleben.
Ganz anders heute. In unserer Überflussgesellschaft müssten wir körperlich aktiver sein, um gesund zu bleiben.
Seit der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert lassen wir viele Tätigkeiten von Maschinen erledigen, viele Berufe bedürfen keines grossen körperlichen Einsatzes mehr. Gleichzeitig ist Nahrung in Westeuropa immer und überall vorhanden, unser Essen können wir heute sogar nach Hause bestellen. Dieses Missverhältnis in der Energiebilanz müssen wir deshalb ausgleichen – mit ausreichend Bewegung.
Bewegung heisst nicht Sport
«Es muss aber nicht Sport sein», relativiert die 60-jährige Sabina Ruff. Wer Alltagsbewegung clever in den Tag integriert, schaffe es auch auf eine genügende Menge.
Zum Beispiel, indem man statt des Lifts die Treppe nimmt. Indem man am Mittag nicht in der Kantine sitzt, sondern sich draussen an einem Imbissstand verpflegt und gleich noch einen Spaziergang macht. Oder indem man auf dem Heimweg eine Busstation früher aussteigt und den Rest zu Fuss geht.
Je attraktiver das Umfeld sei, desto lieber und länger halte man sich darin auf, so Sabina Ruff.
Seit 20 Jahren ist sie in der Bewegungsförderung tätig. Ihre Mission ist es – auch im Auftrag vom Bundesamt für Gesundheit – Gemeinden, Städte und Kantone darauf aufmerksam zu machen, dass sie die Umwelt bewegungsfreundlicher gestalten müssen, damit die Menschen sich mehr bewegen. «Ich möchte nicht das Verhalten der Menschen ändern», sagt Sabina Ruff, «mich interessieren die Verhältnisse.»
Ruff plädiert dafür, die Räume spannend oder überraschend zu gestalten, damit man sich gerne darin aufhält. Die Bewegung komme dann automatisch. «Das kann ein schöner Park sein, eine Allee oder eine Wiese mit grossem Tisch und Sitzbänken.» Am besten in unmittelbarer Nähe zum Wohngebiet. Nur so könne man die 25 Prozent Couch-Potatoes erreichen – indem man sie quasi unbemerkt zu mehr Bewegung im Alltag bringt.
Vorzeige-Gemeinde Lyss
Lyss im Kanton Bern gilt diesbezüglich als Vorzeige-Gemeinde. Rund um den Marktplatz gilt Tempo 30, es gibt üppige Flanierzonen mit Schatten spendenden Bäumen, diversen Sitzgelegenheiten und abgeschrägten Randsteinen für Menschen mit Bewegungseinschränkungen. Vereine mit regelmässigem Trainingsbetrieb dürfen die Sportanlagen der Gemeinde gratis benutzen.
Glanzstück der Gemeinde ist ein speziell konzipierter Spielplatz im Dorfzentrum. Mit verschiedenen Geschicklichkeits-Geräten lassen sich Wasserfontänen ansteuern. Gabriela Dali, Abteilungsleiterin des Departements Soziales und Gesellschaft, erklärt: «Auf dem ‹Hopp-la-Parcours› können sich Jung und Alt miteinander bewegen.» Das diene nicht nur der körperlichen Fitness, sondern verbinde gleich noch die Generationen besser miteinander.
«Menschen ziehen Menschen an!»
Solche Objekte, die neugierig machen und dazu animieren, sie zu benutzen, seien wichtige Elemente im öffentlichen Raum, sagt Sabina Ruff.
Menschen zögen Menschen an, sagt sie: «Wenn Freunde oder Arbeitskollegen sich im öffentlichen Raum aufhalten und dort eine Partie Boule, Fussball oder Federball spielen oder auch nur auf der Wiese chillen, dann gehe ich da auch hin und bleibe nicht vor dem Fernseher sitzen.»
Mit Kunst die Menschen bewegen
Für ihre Mission arbeitet sie auch mit dem Bildhauer Norbert Roztocki zusammen.
Alles begann vor sieben Jahren mit der Idee Roztockis, Holzlatten aneinanderzureihen und auf einer Achse anzubringen. Die Form sollte an eine DNA-Doppelhelix erinnern.
Was als Kunstobjekt gedacht war, wandelte sich schliesslich zu einer Sitzbank, die Bewegung fördert. «Als mein Sohn Alexander die Holz-Skulptur in unserem Garten zum ersten Mal gesehen hat, ist er sofort auf das Objekt geklettert», erinnert sich Norbert Roztocki. Er habe dadurch realisiert, dass Funktionalität und Optik stimmen müssten, damit sich die Menschen gerne auf ein Objekt im öffentlichen Raum einliessen.
In Zofingen spazieren manche Bürgerin und mancher Bürger tatsächlich nur wegen der auffälligen Holz-Skulptur aus dem Haus in den Rosengarten.
An 37 Standorten in der Schweiz sind Roztockis bewegungsfördernde Kunstobjekte installiert. Es gibt Objekte speziell für Schulkinder und für betagte Menschen. Aber immer mit dem gleichen Ziel: Bewegung durch Begegnung schaffen.
Eine Norm für die Bewegungsfreundlichkeit
Um Couch-Potatoes auf die Beine zu bringen, müssen auch Gebäude neu gedacht werden. Als positives Beispiel nennt die Sozialwissenschaftlerin Sabina Ruff die kaskadenartige Treppe im Eingangsbereich der Zürcher Hochschule der Künste im Toni-Areal Zürich. «Die Treppe fällt sofort auf und es zieht einen sprichwörtlich hoch», schwärmt sie.
Weil das Gebäude natürlich auch barrierefrei sein muss, gibt es zwar auch einen Lift. Dieser wurde aber absichtlich ein bisschen versteckt platziert. So wählt nun die Mehrheit die augenfällige «Variante Treppe» – ausgetrickst durch clevere Bauplanung.
Trotz all dieser guten Ansätze gebe es noch viel Luft nach oben, so Ruff. Eine Idee für die Zukunft wäre zum Beispiel eine Art Norm, wie es sie etwa für die Lärmbelastung gibt. «Man könnte einer Stadt das Energiestadt-Label zum Beispiel nur dann geben, wenn sie auch bewegungsfreundlich ist», meint Ruff. Schliesslich habe dies wiederum einen Effekt auf den Energieverbrauch.