Als Ende Januar auf Tiktok der Hashtag «Paracetamol Challenge» auftauchte, ging er viral und erzielte tageweise Hunderttausende von Klicks. Gleichzeitig begannen andere Social-Media-Kanäle, vor dieser Challenge zu warnen.
Auch die Gesundheitsbehörden wurden hellhörig, etwa im Kanton Bern. Sprecher Gundekar Giebel sagt, normalerweise würden sie von solchen Trends überrollt, diesmal hätten sie jedoch frühzeitig gewarnt: «Wir sahen etwas auf uns zukommen, und waren wahrscheinlich früh genug, um das eindämmen zu können.»
Die Krux dabei: Die Paracetamol-Challenge gibt es gar nicht. Sie ist eine Legende – die schon 2023 kursierte. Das hat Tiktok bereits Anfang Februar festgehalten. Gegenüber der französischen Plattform BFM Tech & Co etwa bestätigte das Unternehmen, dass sie «keine Elemente gefunden hätten, die die Existenz der ‹Paracetamol-Challenge› bestätigen würden.»
Trotzdem wird munter weiter gewarnt. Das habe erst einmal damit zu tun, dass Inhalte auf Tiktok tendenziell überschätzt würden, sagt SRF-Digitalexperte Guido Berger: «Die Zahlen, die dort angezeigt werden, wirken immer sehr gross, und man hat fälschlicherweise immer das Gefühl, sehr viele Leute würden das sehen.»
Die Challenges auf Tiktok lösen sich manchmal im Tagestakt ab, und was heute gerade noch beschäftigt hat, interessiert morgen niemanden mehr.
Tiktok sei eine stark fragmentierte Landschaft, in der etwas in einer kleinen Community sehr gross und wichtig sein könne, von dem aber alle anderen rundherum überhaupt nichts mitbekämen.
Dazu komme die Geschwindigkeit des Mediums: «Diese Challenges lösen sich manchmal im Tagestakt ab, und was heute gerade noch beschäftigt hat, interessiert morgen niemanden mehr.»
Es ist die Jugend betroffen, es ist gefährlich, es weckt Aufmerksamkeit, weil es um ein Medikament geht.
Mit diesem Tempo sind herkömmliche Medien überfordert: Sie greifen die Social-Media-Meldung dankbar auf – nicht wegen ihrer Relevanz, sondern wegen ihres Erregungspotenzials, sagt der Medienspezialist Matthias Zehnder: «Es ist die Jugend betroffen, es ist gefährlich, es weckt Aufmerksamkeit, weil es um ein Medikament geht.»
Doch die Paracetamol-Challenge sei beispielhaft dafür, «dass Medien Informationen immer häufiger voneinander beziehen, aus diesem digitalen Universum, das sie selbst bespielen.» Dabei würden sie nicht mehr selber in die reale Welt hinausgehen und überprüfen, ob das, was in der digitalen Welt behauptet werde, überhaupt zutreffe.
Jeder Haushalt hat Paracetamol zu Hause, dadurch kommen die jungen Menschen eben sehr leicht an das Medikament ran.
Ein Aspekt jedoch ist real: Paracetamol kann gefährlich sein. Es wird – überdosiert – für Suizidversuche verwendet. Bei jungen Menschen geschehe dies relativ häufig, sagt Michael Kaess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern. «Es ist frei erhältlich, jeder Haushalt hat Paracetamol zu Hause, dadurch kommen die jungen Menschen eben sehr leicht an das Medikament ran.»
Die französische Zeitung «Libération» deckte Anfang Monat auf: Hinter der angeblichen Challenge auf Tiktok steckte ursprünglich eine Meldung über Suizidversuche bei belgischen Jugendlichen.
Angesichts dessen, wie übermässig Behörden und Medien darauf reagiert hätten, fragt sich Michael Kaess: «Bewirkt eine ständige Thematisierung in den Sozialen und irgendwann dann auch in den herkömmlichen Medien tatsächlich, die Risiken zu senken – oder eher das Gegenteil?» Darauf, findet der Jugendpsychiater, habe die Gesellschaft noch keine Antwort.