Was Ida (Name geändert) als Siebenjährige in den Ferien erlebte, war für ein Mädchen in ihrem Alter höchst ungewöhnlich. Und ziemlich beunruhigend. «Ich hatte Ausfluss in meiner Unterhose und bin zu meiner Mutter gegangen, um sie zu fragen, was das ist.»
Die Erklärung: Bei Ida hatte viel zu früh die Pubertät eingesetzt. Und die Eltern fanden sich unversehens in einem emotionalen Wechselbad wieder. «Wir hatten plötzlich ein achtjähriges Mädchen zu Hause, das sich wie ein pubertierender Teenager benahm», erinnert sich Mutter Simone. «Angefangen bei Stimmungsschwankungen von super lustig bis total aggressiv. Da fragt man sich dann schon, wie man damit umgehen soll.»
Was spielt sich im Körper solcher Kinder ab? Ihre Hirnanhangsdrüse – die Hypophyse – produziert vorzeitig sogenannte Gonadotropine. Diese Signalhormone veranlassen die Eierstöcke das weibliche Geschlechtshormon Östrogen auszuschütten. Wird dieser Prozess nicht gestoppt, beginnen die Brüste zu wachsen, die Gebärmutter entwickelt sich und nach rund zwei Jahren setzt die Menstruation ein.
Begleitet wird diese Entwicklung von einem Wachstumsschub, den es bei noch jüngeren Mädchen als Ida unbedingt mit einer Hormontherapie zu verhindern gilt. Denn startet der Pubertäts-Wachstumsspurt derart zu früh, endet er auch viel zu früh – und das betroffene Kind erreicht nie seine normale Grösse.
Bremsende Hormone kamen schliesslich auch bei Ida zum Einsatz. Nicht, weil es medizinisch notwendig gewesen wäre, sondern weil sie mit der Situation überfordert war.
Dafür hat Beatrice Kuhlmann volles Verständnis. Die Kinderendokrinologin begleitet die heute Zwölfjährige seit nunmehr vier Jahren und hat immer wieder mit Fällen wie Ida zu tun: «Wenn es bei einem Mädchen in der ersten, zweiten Klasse bereits mit der Pubertät losgeht, ist das schon verflixt früh. Im Kopf sind das noch Kinder, aber biologisch schon fast junge Damen – das reisst sie regelrecht auseinander.»
Die positiven Effekte der Hormonbehandlung waren für Idas Mutter ebenso offensichtlich wie überraschend. «Es hat sich sehr schnell sehr viel verändert. Die körperliche Entwicklung wurde praktisch mit der ersten Therapiesitzung gestoppt. Sie wurde allgemein ruhiger, schlief auch wieder viel besser. Das war schon eindrücklich.»
Nach eineinhalb Jahren konnten die Hormone wieder abgesetzt werden. Idas Entwicklung verläuft seither wieder ganz normal. Die Ursache der vorzeitigen Pubertät ist indes unbekannt. Wird wohl auch weiter im Dunklen bleiben.
«In 80 bis 85 Prozent aller Fälle findet sich da nichts», weiss Beatrice Kuhlmann von der Basler Praxis Endonet. «Dabei macht man heute doch recht häufig Abklärungen, um sicher keinen Hirntumor oder die Spätfolgen eines Unfalls oder einer Hirnhautentzündung zu verpassen.»
Antworten könnten dereinst aus Dänemark kommen. Dem Phänomen «zentrale Pubertas praecox» ist man am Rigshospitalet in Kopenhagen seit Jahrzehnten auf der Spur und hat bei Tausenden von Schulkindern verfolgt, wie sich der Beginn ihrer Pubertät entwickelt hat.
Die Kopenhagener Studien sind in Umfang und Dauer in Europa einzigartig. Und das Zahlenmaterial lässt klare Schlüsse zu: Heute zählen die Forscher vier Fälle von vorzeitiger Pubertät auf 10'000 Kinder – und sprechen dabei von einem echten Boom.
«In unserem Krankenhaus sehen wir jedes Jahr zwischen 200 und 300 neue Mädchen», erklärt Anders Juul, Leiter endokrinologische Forschung am Rigshospitalet Kopenhagen. «Vor 15 Jahren kamen zwischen 40 und 50, um sich beraten zu lassen. Heute sind das also sechsmal so viele wie damals.»
Die dänischen Forscher haben auch einen klaren Verdacht, woran das liegt: An hormonaktiven Substanzen, die laufend in sehr geringen Konzentrationen aus der Umwelt aufgenommen werden. «Messungen ergaben, dass 100 Prozent der Schulkinder in Kopenhagen Phtalate im Urin hatten. Und eine hohe Konzentration dieser Weichmacher korrelierte mit vorzeitigem Brustwachstum und später mit dem Auftreten von Schamhaaren.»
Eine weitere Hypothese: Mütter, die während der Schwangerschaft mit Weichmachern in Kontakt kommen, programmieren ihre Babys quasi auf eine frühzeitige Pubertät.
Den entsprechenden Schluss lässt eine Studie zu, bei der zwei Gruppen von Frauen verfolgt wurden. Die einen Gruppe arbeitete in Gewächsshäusern und war dabei bis zum positiven Schwangerschaftstest rund 200 Pestiziden ausgesetzt. Die Frauen in der zweiten Gruppe arbeiteten im Büro ohne Kontakt zu Pestiziden.
Die Töchter der Gewächshausarbeiterinnen entwickelten im Schnitt ein Jahr früher Brüste als die der Büroangestellten.
«Wir beschreiben nur, was wir im wirklichen Leben beobachten», relativiert der Forscher. Deshalb zögere er, von Beweisen zu sprechen. «Aber tief in meinem Herzen habe ich allen Grund zur Annahme, dass hormonaktive Substanzen eine wichtige Rolle bei der Auslösung der vorzeitigen Pubertät spielen.»