Den meisten kommt beim Stichwort «medizinischer Notfall» als erstes die Rufnummer der Ambulanz in den Sinn: die 144. Das ist grundsätzlich nicht falsch. Wer diese Nummer wählt, bekommt ganz sicher qualifizierte, medizinische Hilfe. Die Notrufnummer 144 ist laut Interverband für Rettungswesen die Nummer für lebensbedrohliche und akute Notfälle, die auch bei Zweifelsfällen weiterhelfen kann. Sie sollte aber nicht als erste Nummer gewählt werden, sondern – so die Auskunft der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren und -direktorinnen (GDK) – die Nummer des regionalen ärztlichen Notfalldienstes. «Dieser soll abschätzen, ob die Ambulanz notwendig ist. Die 144 ist nur bei lebensbedrohlicher Situation oder akutem Notfall direkt zu wählen.»
Ob es sich tatsächlich um einen akuten Notfall oder eine lebensbedrohende Situation handelt, ist für Laien allerdings schwierig zu beurteilen: Immerhin wird die 144 drei Mal mehr angerufen, als letztlich Notfall-Einsätze der Sanität ausgelöst werden.
Ambulanz kann teuer werden
Gegen das bedenkenlose Wählen von 144 spricht auch die Kostenfrage. Laut Santésuisse, dem Dachverband der Schweizer Krankenkassen, übernehmen die Krankenkassen die Hälfte der Kosten für einen Einsatz der Ambulanz nur dann, wenn der Krankentransport ins Spital «medizinisch begründet» war oder es sich um eine «Rettungsaktion aus einer lebensbedrohlichen Lage» handelte. Und auch dann nur bis zu einem bestimmten Betrag im Jahr.
Gar nichts zahlen die Krankenkassen, wenn es zumutbar gewesen wäre, zum Beispiel im Taxi zum Spital zu fahren. Dies gilt auch, wenn man die Ambulanz gar nicht selber gerufen hat. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern bestätigte 2008 diesen Sachverhalt im Urteil um den Fall eines Besuchers des Zentralschweizer Oktoberfestes: Ein Polizist hatte den Rettungsdienst alarmiert, nachdem der Besucher über Schmerzen im Arm geklagt hatte. Die Rechnung ging an den Festbesucher, obwohl dieser die Ambulanz nicht angefordert hatte. Er wehrte sich gegen die Übernahme der Kosten – vergeblich.
Wie hoch der Rechnungsbetrag ausfällt, ist abhängig von der kantonalen Grundpauschale und von der Distanz, die der Krankenwagen zurücklegt. Im Kanton St. Gallen zum Beispiel kostet ein Einsatz pauschal 650 Franken plus 7 Franken pro gefahrenen Kilometer. Nur wer eine Zusatzversicherung bei seiner Krankenkasse hat, kann davon ausgehen, dass 90 bis 100 Prozent der Kosten eines Ambulanzeinsatzes abgedeckt sind.
Kantonaler Nummernsalat
Die erste Nummer, die bei einem medizinischen Notfall zu wählen ist, ist also diejenige des ärztlichen Notfalldienstes. Nur, unter welcher Nummer erreicht man den regional zuständigen ärztlichen Dienstarzt?
Alleine in der Ostschweiz gibt es über 100 (!) Telefonnummern. Die einfache Erklärung der schier unglaublichen Vielzahl: Der Notfalldienst ist kantonal geregelt und wird meist von den Kantonalen Ärztegesellschaften koordiniert – die ihrerseits die Organisation des Notfalldienstes an Bezirksvereine, Kreise oder lokale Ärztegruppen weiterdelegieren.
- Nur wenige Kantone haben bereits eine einzige zentrale Telefonnummer für den ärztlichen Notfall, ganz egal, ob es sich um einen Transport in den Spital handelt oder nicht: Unter dieser einer Nummer wird abgeklärt, ob es sich tatsächlich um einen Notfall handelt und ob der ärztliche Notfalldienst oder die Ambulanz gerufen werden muss. Im Oktober 2010 sind dies die Kantone Schaffhausen, Ob- und Nidwalden, Uri, Waadt, Solothurn und beide Basel. Im Kanton Neuenburg ist die 144 zu einer solchen Triage-Nummer umfunktioniert worden. Im Wallis ist die Zentrale der Ambulanz mit der des ärztlichen Notfalldienstes zusammengelegt. Wer sich verwählt, ist trotzdem richtig. Alle diese Kantone sind mit der zentralen Notfallnummer absolut zufrieden.
- Teilt ein Kanton den ärztlichen Notfalldienst in Bezirke ein, steigt die Anzahl der Telefonnummern. So zum Beispiel in den Kantonen Freiburg, Tessin, Schwyz, Thurgau und beiden Appenzell. Noch mehr Nummern sind es in den Kantonen Jura, Luzern, Zug und Glarus.
- Ist der ärztliche Notfalldienst kommunal organisiert, ergeben sich noch einmal mehr Nummern. Im Kanton Aargau zum Beispiel sind es 16, im Kanton Genf 18 und im Kanton Zürich sogar 20.
- Noch unübersichtlicher wird es in den Kantonen St. Gallen und Graubünden. Darum wurden dort zentrale Nummern eingerichtet, die Auskunft geben über die regional korrekte Telefonnummer. Solche Auskunftsnummern unterhalten auch die Kantone Thurgau, Zug und Tessin. Zum Teil ist dies sogar die 144.
- Schliesslich noch zum absoluten Spitzenreiter: Der Kanton Bern kennt 40 verschiedenen Telefonnummern für den ärztlichen Notfalldienst.
Bestrebungen zur Zentralisierung
Nicht nur die Verwirrung in der Bevölkerung ob dem Nummern-Wildwuchs treibt die Bemühungen zur Zentralisierung des Notfall-Systems an. Auch die Spitäler beklagen sich über die steigende Anzahl der Patienten, die mit Bagatellen die Notfallstationen blockieren. Vor allem in den Städten haben immer mehr Personen keinen Hausarzt mehr und steuern bei jedem medizinischen Problem direkt ins Spital. Im Stadtkanton Genf spricht man von regelrechtem «Notfall-Tourismus». Dieser könnte durch eine schweizweit gültige, einprägsame Nummer abgefangen werden.
Für die kantonalen Ärztegesellschaften wird es ausserdem wegen der Überalterung der Grundversorger und der fehlenden Nachfolger immer schwieriger, den ärztlichen Notfalldienst zu garantieren. Regionale Zusammenschlüsse könnten diesen Problemen entgegenwirken. Zudem attestiert ein Teil der Fachärzte den Grundversorgern, die nur selten mit Notfällen konfrontiert sind, mangelnde Fachkompetenz im Notfalldienst. Im Zuge einer Zentralisierung könnte auch die Weiterbildung aller Notfalldienstleistenden besser kontrolliert werden. Die GDK und der Dachverband der Kantonalen Ärztegesellschaften FMH streben darum eine kantonsweite, wenn möglich sogar eine schweizweite Lösung an.
Ganz aktuell bemüht sich die Ostschweizer Gesundheitsdirektorenkonferenz um eine zentrale Notfallnummer für alle Ostschweizer Kantone: In einem Pilotprojekt soll sich erweisen, wie gut sich eine dreistellige Notfallnummer für ein so grosses Gebiet eignet. Ob die dreistellige Nummer vom Bund bewilligt wird, ist jedoch fraglich. Die Latte für die Vergabe einer solchen Nummer hängt hoch.
Auch die Ärztegesellschaft des Kantons Aarau hat das Problem erkannt und möchte statt der bisher 16 Nummern nur noch eine einzige. Und im Kanton Zürich hat sich durch das «Ärztefon» der Stadt Zürich auch in den umliegenden Gemeinden etwas getan: Viele haben sich dem stadtzürcher Notfallnetz bereits angeschlossen. Die Zahl der Notfallnummern innerhalb des Kantons konnte dadurch bereits etwas vermindert werden.
Welche Nummer soll es denn sein?
FDP-Nationalrat Filippo Leutenegger fordert die Anpassung an EU-Verhältnisse und damit die «112» als zentrale Notfallnummer. Dagegen wehren sich einzelne Kantone, die bereits zentralistisch organisiert sind, mit der Begründung, dass die «144» in der Schweiz als Notfallnummer etabliert sei.
In der EU selbst allerdings streben einzelne Organisationen wie zum Beispiel die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg (KVBB) in Deutschland eine neue europaweite einheitliche Nummer für den medizinischen Bereitschaftsdienst an: die «116 117».
Problem Finanzierung
Das Hauptproblem einer zentralisierten kantonalen Notfallnummer liegt in der Finanzierung der nötigen Infrastruktur samt qualifizierten Fachkräften. In einigen Kantonen übernimmt das die öffentliche Hand. Dort ist die zu wählende Nummer ein ganz normale mit sieben Zahlen. Die Kantone Basel Landschaft und Basel Stadt zum Beispiel haben eine gemeinsame 061er-Notfallnummer, Ob- und Nidwalden eine 041er. Andere lehnen die Finanzierung durch die öffentliche Hand ab.
In einigen Kantonen übernehmen die Ärzte einen Teil der Kosten – oder der Anrufer selbst: In der Region Wohlen und Muri (AG) zum Beispiel berappen die Anrufer via 900er Nummer 2 Franken pro Minute. In manchen Kantonen beteiligen sich auch die Versicherer an einer Finanzierung. Andere wollen dies nicht, um unabhängig zu sein von fremden Interessen.
Klar ist allerdings auch, dass mit einer zentralen Triagierung der Notrufe der «Notfalltourismus» in die Spitäler eingedämmt werden könnte, Hausärzte koordinierter eingesetzt würden, es weniger unnötige Einsätze der Ambulanz gäbe und somit auch Kosten gespart werden könnten.
Und welche Nummer soll ich nun wählen?
Am besten informiert man sich über die Telefonnummer des ärztlichen Notfalldienstes, bevor man sie benötigt. Ein medizinischer Notfall bedeutet Stress und Zeitnot – kein idealer Zeitpunkt, um auch noch eine Telefonnummer ausfindig zu machen. Gerade wer keinen Hausarzt hat, sollte sich informieren, wo er den nächsten diensthabenden Notfallarzt erreicht. Gemeinsam mit diesem kann dann evaluiert werden, ob die Ambulanz nötig ist.