Die Zahlen stimmen nachdenklich: Studien gehen davon aus, dass jeder vierte bis fünfte Schweizer einmal an einer Angststörung leidet, an Angst in einem Ausmass, das das individuell erträgliche Mass überschreitet. Paul Hoff, Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, ist angesichts der Statistik kritisch: «Ich bin immer ein wenig beunruhigt, wenn ich diese grossen Zahlen lese. Hier reden wir ja von der Lebenszeitprävalenz, das heisst, der Wahrscheinlichkeit, dass eine Person im Laufe ihres ganzen Lebens einmal eine solche Erkrankung entwickelt. Das ist etwas anderes als eine Punktprävalenz, dass genau jetzt jeder vierte Mensch eine Angststörungen hätte.» Nichtsdestotrotz: Angststörungen sind häufig. Vielleicht sind sie sogar ein Zeichen der Zeit mit ihrem zunehmenden Druck und einer wachsenden Erwartungshaltung.
Krankhaft sind die wenigsten Ängste. «Angst hat erst einmal gar nichts mit Krankheit oder Psychiatrie zu tun, sondern sie ist eine Eigenschaft, die Menschen einfach haben – und zwar alle Menschen, ob jung, ob alt, ob im mittleren Lebensalter. Das gehört zum Menschsein genauso dazu wie traurig, fröhlich oder auch mal wütend sein.» Auch wenn Angst ein unangenehmes Gefühl ist, kann sie auch eine durchaus positiv sein, beispielsweise als Signal dafür, dass eine schwierige Lebenssituation zu überfordern beginnt.
Ängste sind sehr individuell
Wie stark Krisen einen Menschen verunsichern, wie sensibel er reagiert, nennt man Vulnerabilität: Manchmal reicht dann ein einziges Ereignis, das noch gar nicht in direktem Bezug zu einem selbst stehen muss, um das Fass zum Überlaufen zu bringen und starke Ängste auszulösen – ein Tsunami kann so ein Ereignis sein, oder eine Nuklearunglück wie in Fukushima.
Neben der Vulnerabilität spielt die Persönlichkeit eine Rolle. Pessimistisch und von Natur aus ängstlich veranlagte Personen sind eher empfänglich für Ängste als Menschen mit dem Grundvertrauen, dass alles gut gehen wird. Das Auftreten von Angst muss auch im Leben einer Person nicht gleich bleiben. Kritische Phasen vergrössern Ängste vielleicht, entspannte Lebenssituationen entschärfen die Lage. Und nicht zuletzt ist die Biographie wichtig: Hat ein Mensch in und mit Krisen positive oder negative Erfahrungen gemacht?
Wo aber liegt die Grenze zu einer Angst, die behandelt werden muss? «Sie liegt dort, wo eine Dysbalance mit der Lebenssituation entsteht. Der Student beispielsweise, der am nächsten Tag eine Prüfung hat: Er hat Angst, das ist unangenehm, aber er geht hin und legt die Prüfung ab – diese Angst macht ihn nicht zum Kranken.» Ist die Angst aber so gross, dass er die Wohnung nicht mehr verlassen kann, in der Prüfung regelmässig Blackouts hat oder keinen Ton mehr hervorbringt, wird der Leidensdruck irgendwann so gross, dass er sich Hilfe suchen wird. Meist kommt sie in Form einer Psychotherapie. Sind die Ängste sehr stark, kombiniert man möglicherweise die Psychotherapie mit einer medikamentösen Therapie. Die Erfahrungen zeigen: Die meisten Patienten sprechen gut darauf an.
Oft nur eine Facette anderer Erkrankungen
Vielfach treten Ängste aber in Kombination mit Depressionen oder Psychosen auf. Dann ist auch für Experten wie Paul Hoff die Grenze überschritten, wo ein Patient alleine aus seiner Störung findet. Dennoch – wichtig ist ihm, und das erklärt er auch seinen Patienten: «Menschen sind nicht anfällig für Angst – Menschen sind anfällig für Gefühle. Und eines davon ist eben die Angst.»