Jährlich verunfallen im Schnitt 65'000 Wintersportler aus der Schweiz auf Pisten im In- und Ausland – 22 Prozent aller Fälle müssen mit Knochenbrüchen behandelt werden. Vor zehn Jahren waren es noch 17 Prozent. «Das hohe Tempo der Skifahrer und Snowboarder kann bei einem Sturz zu schwereren Verletzungen führen», begründet Samuli Aegerter, Schneesportexperte bei der Suva, diese Zunahme. Ein weiterer Faktor sei der vermehrte Einsatz von Kunstschnee, der die Piste härter mache.
Ein wichtiger Faktor, der hilft, schwere Stürze zu vermeiden, ist die richtige Einschätzung des Bremswegs. Doch Beobachtungen der Suva auf den Schweizer Skipisten zeigen, dass viele Fahrer diesen unterschätzen. Sie sind sich nicht bewusst, dass alleine schon der Reaktionsweg viel Raum braucht. Im Auftrag der Suva haben Forscher der Arbeitsgruppe Unfallmechanik (AGU) deswegen Tests durchgeführt um herauszufinden: Wie lange ist der Reaktionsweg und wie lange der Bremsweg? Ein Interview mit Biomechaniker Markus Muser, Leiter AGU.
SRF: Wie sah die Testanlage konkret aus?
Markus Muser: Getestet haben wir den Anhalteweg von Skifahrern und Snowboardern. Der Anhalteweg setzt sich zusammen aus dem Reaktionsweg und dem Bremsweg. Später bei der Auswertung wurde dann der Reaktionsweg nochmals unterteilt: Einerseits gilt da die Zeit, bis man realisiert, dass man bremsen muss. Andererseits braucht es auch Zeit, die Bewegung einzuleiten, bevor der wirkliche Bremsweg beginnt. Das wäre dann die Zeit, bis die Skier quergestellt sind, damit der Fahrer überhaupt auf die Kante verlagern kann.
Mit einem Snowboard bremst es sich schlechter als mit Skiern.
Die Tests haben wir an einem relativ steilen Hang durchgeführt – die Probanden sind gestartet ohne Sicht in den Hang. Unten am Hang stand der Versuchsleiter, er gab akustische und visuelle Signale mit Scheinwerfer und Hupe. Auf diese Signale galt es für die Probanden, eine Vollbremsung hinzulegen. Sie wussten zwar nicht, wann und wo das Signal kommt, wussten aber dass es kommt. Sie hatten also schon eine erhöhte Bereitschaft und waren darauf vorbereitet, dass irgendwann etwas geschieht. Die Probanden durften so schnell fahren wie sie wollten; im Schnitt haben wir ein Tempo von 30 bis 45 Stundenkilometern gemessen. Die Tests haben wir von einer erhöhten Position aus gefilmt, um sie später auswerten zu können.
Wie viele Probanden haben an dem Versuch teilgenommen?
Insgesamt haben wir neun Probanden getestet, drei Frauen und sechs Männer. Davon waren fünf auf Skiern und vier auf dem Snowboard. Jeder fuhr die Strecke insgesamt neun Mal.
Wie haben Sie die Tests ausgewertet?
Die Videosequenzen wurden qualitativ ausgewertet: Wann kommt das Signal, wie viel Zeit verstreicht bis ein Fahrer den Schwung einleitet – also reagiert, wann beginnt das effektive Bremsmanöver, und wie viel Zeit braucht es bis zum Stillstand. In einem zweiten Schritt wurden die dazugehörigen Distanzen fotogrammetrisch errechnet.
Und was ist das Resultat der Tests?
Aus den Tests ergaben sich Tabellen mit Bremszeiten und Bremsweg. Was man deutlich sah: Mit einem Snowboard braucht man länger als mit den Skiern und eine grössere Distanz zum Bremsen, weil hier nur eine Kante greift und weil man mit den Ski schneller die ideale Bremsposition erreicht.
Durchschnittlich über alle verschiedenen Geschwindigkeiten ermittelt braucht man rund 20 Meter Gesamtanhalteweg. Die Besten brauchten 15 Meter, die Schlechtesten 24 Meter. Ausserdem benötigt man durchschnittlich nur schon elf Meter, bis man überhaupt zu bremsen beginnt, also reiner Reaktionsweg. Das heisst, der Weg, den man zurücklegt um zu reagieren ist also grösser, als der Weg den es zum Bremsen braucht. Der Bremsweg wiederum hängt stark vom Fahrkönnen und den Schneeverhältnissen ab.
Die AGU hat mit einem Crash-Test auch evaluiert, welche Kräfte wirken, wenn zwei Skifahrer ineinander prallen. Was war da die Ausgangslage?
Ein Dummie ist mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h in einen stehenden Dummie gefahren, so dass er ihm in die Seite prallte. Gezeigt haben diese Tests, dass bereits bei diesem Tempo, welches auf Schweizer Pisten als eher langsam gilt, schwerste Verletzungen die Folge sind. Es sind enorme Kräfte die da wirken. Würde die Kollision mit einem stillstehenden Gegenstand stattfinden, also zum Beispiel mit einem Skiliftmast der nicht nachgibt und nicht gepolstert ist, dann entspricht der Zusammenprall einem Sturz aus dem zweiten Stock auf Beton.