Sie heissen Sebastian, Marvin und Nor. Die drei Männer Anfang 30 wirken zurückhaltend, freundlich, bescheiden. Mit ihnen liesse sich wohl trefflich über Fussball oder Formel 1 in der Bar diskutieren. Das kann allerdings täuschen, ihre grösste Leidenschaft ist eine andere.
Sebastian, Marvin und Nor sind Doktor Becker, Doktor Müller und Doktor Jafaari. Ihre akademische Laufbahn hat die Deutschen in die Schweiz gebracht, an die ETH Zürich. Hier haben sie studiert und zwei von ihnen geforscht. Sie sind alle Doktoren der Mathematik. Und dürften bei High-Tech-Giganten dieser Welt sehr gefragt sein, bei Google, Microsoft, IBM etwa.
Stattdessen sitzen sie in einem Einraumbüro in einem modernen Bürokomplex am Fusse des Uetlibergs in Zürich-Binz, einer Art Dienstleistungs-Trendquartier. Zenai heisst das Start-up-Unternehmen, bei welchem sie tätig sind. Hier verbinden sie das neuste Wissen aus der Finanzmathematik mit Machine Learning.
Mit Algorithmen zum wirtschaftlichen Erfolg
«Die Grundlage unserer Tätigkeit ist immer die Mathematik», erklärt Nor. «Versteht man die mathematischen Zusammenhänge, lassen sich mit Machine Learning immer bessere Optimierungen und Vorhersagen für immer komplexere Fragestellungen unserer Kunden finden.»
Geht es konkret um ihre Kunden und deren Problemstellungen, sind die drei so diskret wie die Banken an der Bahnhofstrasse. Diese sind aller Wahrscheinlichkeit nach auch ihre Kunden. Es fallen Ausdrücke wie «Derivate-Bewertung» und «hochdimensionale, amerikanische Optionen», ohne dass die drei Mathematiker darauf näher eingehen. Vielleicht aus purer Höflichkeit.
Dann ist ihnen aber ein Beispiel zu entlocken für eine Problemstellung, mit der sie sich beschäftigen: die dynamische Preisgestaltung von Tageskarten in Skigebieten. Ihr Ansporn ist es in so gelagerten Fällen, die eingesetzten Preisberechnungsmodelle mit ihren Modellen und Algorithmen zu schlagen.
Sebastian erklärt: «Einer unserer Kunden konnte mit unseren Optimierungen seine Gewinnmarge mehr als verzehnfachen.» Mit Daten, Formeln und Funktionen den letzten Rappen rauspressen.
Warum der Hype?
Mit solchen Verheissungen scheint die Zukunft rosarot. Ist es also das, was den Hype um künstliche Intelligenz ausbrechen liess? Profitmaximierung war schon immer. Für Profitmaximierung mit Hilfe von künstlicher Intelligenz fehlte aber Entscheidendes.
Als akademisches Fachgebiet taucht künstliche Intelligenz Ende der 1950er-Jahre auf. In den 1990er-Jahren forscht unter anderen der Computerwissenschaftler Jürgen Schmidhuber mit seinem Team an der SUPSI bei Lugano (Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana) an künstlichen neuronalen Netzwerken.
Das sind algorithmische Konzepte, deren Funktionsweise an die des menschlichen Gehirns angelehnt sind. Mit ihnen werden die digitalen Helferlein von heute entwickelt: beispielsweise die Spracherkennung auf Android-Geräten, Apples Sprachsteuerung «Siri» oder auch Googles Übersetzungssoftware «Translate».
Die Grundlagen für künstliche Intelligenz waren also schon länger vorhanden. Es fehlte einzig an der benötigten Rechenleistung der Computer für das Auswerten von Abertausenden von Daten.
Mit der fortwährenden Vergünstigung von Prozessoren, Speichern und Bandbreiten bei gleichzeitiger Leistungssteigerung in den letzten Jahrzehnten lassen sich heute die Datenmengen computertechnisch verarbeiten, die für künstliche Intelligenz nötig sind.
Jetzt können theoretische Grundlagen, die schon länger bestehen, weiterentwickelt werden. Wie etwa beim Start-up in Zürich. Dort wird auch mit den algorithmischen Konzepten von Jürgen Schmidhuber weitergearbeitet und gerechnet. Im eigenen Datencenter, dessen Standort so geheim ist wie weiland die Bunker in den Bergen.
Die Vorstellungskraft fehlt
Zwar sind heute die Voraussetzungen für einen umfassenden Einsatz von künstlicher Intelligenz technisch gegeben. In der Schweiz scheint es jedoch an Wissen zu fehlen, was überhaupt mit künstlicher Intelligenz alles möglich ist – und was nicht.
In einer von der Swisscom Ende 2018 veröffentlichten Studie geben fast die Hälfte der befragten Schweizer Unternehmen an, dass für sie der konkrete Nutzen von künstlicher Intelligenz fürs eigene Unternehmen nicht ersichtlich sei. Dies hauptsächlich wegen fehlenden Wissens im Betrieb.
«Bei künstlicher Intelligenz denken viele gleich an Superroboter», sagt Ursin Brunner. Der 32-Jährige studiert an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) Informationstechnologie mit Schwerpunkt «Data Science».
Der gelernte Informatiker hat verstanden, wo die Zukunft seiner Branche liegt. Als arbeitender Student stellt auch er fest, dass in der Schweiz neben der Medizin die Finanzbranche eine gewisse Vorreiterrolle beim Einsatz von künstlicher Intelligenz übernimmt. Beim Aktienhandel und Risikomanagement, bei der Auswertung von Kundendaten und schlicht beim Einsatz von «coolen» Tools.
Als Beispiel nennt er die Gesichtserkennung zur Kunden-Identifikation. «Die digitalen Neo-Banken bringen die klassischen Schweizer Banken in Zugzwang, moderne Technologien einzusetzen.»
Der Rohstoff für den Einsatz von künstlicher Intelligenz ist in praktisch jeder Branche vorhanden. «Unternehmen sitzen auf riesigen Mengen an Daten, die es zu nutzen gilt», meint Dr. Sebastian Becker von Zenai.
Klassisches Klinkenputzen ist für sein Jungunternehmen ebenso wichtig wie das Tüfteln an Algorithmen. Jede Woche werden mehrere Präsentationen gehalten, um die Möglichkeiten von maschinellem Lernen bei potenziellen Kunden aufzuzeigen.
Die Welt wartet nicht auf die Schweiz
Wichtige Verbündete bei dieser Aufklärungsarbeit sind Unternehmensberater. Solche vom Schlage Damir Bogdans, der sich «Berater der digitalen Transformation» nennt. Mit Rollkoffer ist er auf dem Sprung zwischen der Schweiz, Asien und dem Silicon Valley.
Das Gemahnen an den erbarmungslos schnellen Wandel in Technologie und Gesellschaft ist sein Geschäft. Er hat mit Schweizer Unternehmen unterschiedlicher Grösse zu tun und ist selbst an Schweizer Start-up-Firmen beteiligt.
«Das Wissen über die technologischen Möglichkeiten und Veränderungen jetzt und in Zukunft muss in der Schweiz viel mehr gefördert werden», erklärt er. Bei seinen Beratungen sitze er oft vor staunenden Gesichtern. «Wir stehen ganz am Anfang der Entwicklung, etwa so wie bei der Computertechnologie in den 1980er-Jahren.»
Auch der Bundesrat will, dass die Schweiz die Chancen der Digitalisierung nutzt. Er verabschiedete im September 2018 die Strategie «Digitale Schweiz». Dazu wurde eine Arbeitsgruppe zum Thema künstliche Intelligenz eingesetzt. Die Bundesverwaltung soll den Dialog mit interessierten oder betroffenen Akteuren intensivieren.
Das ist dem Unternehmensberater nicht schnell genug. Der digitale Wandel wartet nicht auf die Schweiz.
Vollbeschäftigung gefährdet
«Wir setzen uns mit dem Thema des immer schnelleren technologischen Wandels viel zu wenig auseinander», ist Unternehmensberater Damir Bogdan überzeugt. Im internationalen Wettbewerb müssten die Schweizer Unternehmen innovieren, das bedeute automatisieren. Künstliche Intelligenz ist ein Teil davon. Für ihn steht die Schweiz vor einem dramatischen Transformationsprozess.
«Durch Automatisierungen sehe ich die Vollbeschäftigung in der Schweiz bis in etwa fünf Jahren gefährdet.» Dies werde allerdings nur ein Übergangsphänomen sein.
Ist die Transformation der Wirtschaft bis in rund zehn Jahren vollzogen, die neuen Technologien implementiert und neue Berufsbilder geschaffen, glaubt Bogdan daran, dass die Schweiz ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten kann. Und dass es dannzumal auch wieder ausreichend Arbeitsplätze gibt.
Grundeinkommen (nicht) neu diskutieren
Was ihm aktuell fehlt, ist eine landesweite Diskussion, wie den gesellschaftlichen Problemen der wirtschaftlichen Transformation begegnet werden soll. Er wünscht sich beispielsweise eine neue Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen, über eine Robotersteuer oder über Umschulungsprogramme.
Die Schweizer Regierung indes sieht keine dunklen Wolken am Wirtschaftshimmel aufkommen. In einem Bericht vom Dezember 2018 hält der Bundesrat fest, dass es derzeit keine Anzeichen für ungünstige Entwicklungen der Beschäftigung und der Einkommen als Folge der digitalen Transformation gebe.
Mit dieser Einschätzung ist der Bundesrat gegen Reformen des Steuerwesens, also auch gegen die Einführung einer Robotersteuer. Von einer neuen Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen ganz zu schweigen.
Schweiz statt Silicon Valley
Bern ist nicht bekannt für Tempo. Die Dynamik in Sachen künstlicher Intelligenz hierzulande entsteht an den Hochschulen, insbesondere an den beiden technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne.
Den Studierenden, Forschenden und Beschäftigten im Umfeld der künstlichen Intelligenz ist ein nationales Denken fremd. Künstliche Intelligenz ist grenzenlos.
Das beginnt bei der Studentenschaft selbst, die wegen des sehr guten Bildungsangebotes aus allen Herren Länder an die hiesigen Hochschulen kommt. An der ETH Zürich kamen 2018 die Informatikstudierenden aus 24 Ländern. Die grössten Gruppen ausländischer Studierender stammen aus China, Deutschland und Indien.
Nach dem Studium bleiben viele in der Schweiz. Denn die traditionellen Schweizer Stärken stechen: neben den Ausbildungs- und Forschungsmöglichkeiten die funktionierende Infrastruktur und der hohe Lebensstandard mit entsprechend guten Löhnen.
Und was ist mit dem Silicon Valley – dem vermeintlichen Mekka für innovative Technologien? Die drei deutschen Mathematiker Sebastian, Marvin und Nor vom Zürcher Start-up Zenai rümpfen die Nase. Sie sehen keinen Grund, dahinzugehen. Der Austausch in der KI-Community ist sowieso international und findet auf vielfältige Weise statt.
Weltweiter Wettbewerb
Das rund um den Erdball stetig weiterentwickelte Wissen um künstliche Intelligenz wird öffentlich zugänglich gemacht. Zwar nicht in allen Details, aber in Konzeptpapieren und Vorabdrucken von Wissenschaftsbüchern auf einschlägigen Plattformen. Protektionismus gibt es kaum.
«Die Welt der künstlichen Intelligenz dreht sich viel zu schnell, um irgendwelche Schutzrechte anzumelden», sagt ZHAW-Werkstudent Ursin Brunner. Vielmehr gehe es darum, das Wissen von anderen in die eigene Arbeit zu integrieren und weiterzuentwickeln. Immer weiter. Bis noch bessere Lösungen entstehen. Es ist ein Wettbewerb der hellsten Köpfe. Die Triebfeder heisst Renommee.
Denn die KI-Community trifft sich regelmässig auf internationalen Konferenzen. Wird man dabei von den richtigen Leuten zitiert, ist das die Währung, mit der das Veröffentlichen von Wissen zurückbezahlt wird.
So erwähnte ein Stanford-Professor eine wissenschaftliche Schrift des Zürcher Start-ups in seiner Präsentation. Aus solchen Zitierungen sollen klingende Münzen werden. Sie sollen das Ansehen der Firma steigern und neue Kunden bringen.
Und wo bleibt die Ethik?
Mit der globalen Diffusion des Wissens rund um künstliche Intelligenz stellt sich die Frage: Wenn grundsätzlich alle zu allem Zugang haben, wo bleibt da die Ethik bei der Verwendung und den Folgen von künstlicher Intelligenz?
«Ethikfragen werden an jeder Konferenz diskutiert», sagen die drei Doktoren vom Zürcher Start-up. Sie hätten auch schon Aufträge aus ethischen Gründen abgelehnt. Reicht also eine reine Selbstregulierung?
Die drei verneinen. Es brauche übergeordnete Richtlinien. Erst kürzlich hat die EU ihre «ethischen Leitlinien für die Entwicklung vertrauenswürdiger künstlicher Intelligenz» vorgelegt.
Auch in der Schweiz sind Richtlinien geplant. Die 2018 vom Bundesrat eingesetzte Arbeitsgruppe soll im Herbst 2019 ihre «Überlegungen zu einem transparenten und verantwortungsvollen Einsatz von künstlicher Intelligenz» vorstellen.
Gefahren der Technologie
Während die EU und die Schweiz ringen, geht längst ethisch Fragwürdiges vonstatten. Bekanntestes Beispiel ist das Sozialkredit-System, das in China erprobt wird. Mit flächendeckenden Kameras werden die Bürgerinnen und Bürger überwacht, mittels Gesichtserkennung identifiziert und bei staatlich definiertem Fehlverhalten sanktioniert.
Wer im Westen meint, chinesische Personenüberwachung betreffe einen selbst nicht, täuscht sich: Wie verschiedene Medien anfangs Juli 2019 berichteten, sind China-Reisende von staatlicher Überwachung nicht gefeit.
Wer weiss schon, wo bei den rund um den Erdball verwendeten KI-Technologien Wissen «made in Switzerland» zur Anwendung kommt. Taucht Kriegsmaterial irgendwo auf der Welt auf, wo es nicht sein sollte, hat man den handfesten Beweis. Rund um künstliche Intelligenz werden solche Beweise weitgehend fehlen. Möglicherweise gelieferte Sensortechnik ist klein und gut verbaut. Und grundlegendes Wissen tragen Studierte mit sich in die Welt hinaus.
Was kann künstliche Intelligenz 2050?
Wo das alles hinführt, weiss niemand. Was kann künstliche Intelligenz 2030, was kann künstliche Intelligenz 2050? Mit diesen Fragen können die drei Doktoren der Mathematik aus dem Start-up am Fuss des Zürcher Hausbergs nichts anfangen. Die Fragen sind ihnen irgendwie zu abstrakt. Ausgerechnet.
Fortschritt ist ein schleichender Prozess. Er geschieht nicht in vordefinierten Sprüngen. «Hat man ein mathematisches Problem gelöst, freut man sich und geht zum nächsten über», erklärt Dr. Nor Jafaari mit einem Lächeln. Technologischer Fortschritt ist das Nebenprodukt dieses Vorgehens.
Und so forschen und arbeiten er, seine Kollegen und Hunderte, Tausende andere in der Schweiz und auf der Welt weiter. Leben in ihrer mathematischen Welt. Und verändern die Welt von uns allen. Algorithmus für Algorithmus. Immer mehr. Immer schneller.