Der Zukunftsforscher fährt natürlich im Tesla vor. Und er gibt gleich Gas: «Der Trend zum batteriebetriebenen Auto ist im Moment so stark, dass wir von Jahr zu Jahr eine Verdoppelung der Zulassungen sehen», sagt Lars Thomsen. Er hat uns zu einer kleinen Ausfahrt eingeladen. Angeschnallt? Los geht's.
Thomsens Fachgebiet ist die Mobilität. Er spürt für Unternehmen Trends auf, die die Welt verändern. Dazu gehört die Prognose des Zeitpunkts, an dem ein Trend im Mainstream ankommen wird. Bei der E-Mobilität, sagt Lars Thomsen hinter dem Steuer, sei das genau jetzt.
Der Antrieb ist schuld
Die Zahlen sprechen für sich: 2019 hatte jeder 16. Neuwagen in der Schweiz einen stromangetriebenen Elektromotor, im Jahr 2020 war es jeder sechste, im Verlauf dieses Jahres bereits jeder vierte.
«Es war wie beim Internet oder Smartphone», sagt der Zukunftsforscher. Über Jahre geschieht nur zögerlich etwas – und plötzlich nimmt die neue Technologie an Fahrt auf. Dann ist sie aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken.
Den Grund für den Erfolg der Elektromobilität im Individualverkehr fasst er in einem Satz zusammen: «Das E-Auto hat sich durchgesetzt, weil kein anderer Antrieb ihm gegenüber einen Vorteil hat.»
Stecker rein und tschüss
Es ist vor allem die Handhabbarkeit, die das E-Auto auch Alternativen wie dem Wasserstoff- oder anderen Brennstoffzellenautos den Vorsprung verschafft hat: Stecker rein und fertig. Strom gibt es überall. Notfalls lässt sich das Auto an einer ganz normalen Haushaltssteckdose laden – der Ladevorgang dauert dann einfach sehr viel länger.
Wer es schneller will, kann heute für einige 100 Franken eine Schnellladesäule im Hinterhof aufstellen. «Hat man sich einmal daran gewöhnt, morgens vollgetankt loszufahren, kommt man davon nicht mehr los», ist Thomsen überzeugt.
Die meisten Schweizer steigen aber um aufs Elektroauto, weil es beim Fahren kein CO2 produziert und so ein einigermassen umweltfreundliches Autofahren ermöglicht.
Gewagte Prognose
«Die Klimakrise werden wir damit nicht lösen können», sagt Thomsen. Aber das Elektroauto könne seinen Teil dazu beitragen.
Rund ein Drittel unseres CO2-Ausstosses verursacht der Verkehr. Der Löwenanteil von 72 Prozent geht auf das Konto unserer PKW. Dort müssen wir also ansetzen, um unseren CO2-Fussabdruck im Verkehr zu reduzieren. Mit keiner anderen Antriebstechnik wird uns das schneller gelingen als mit dem Wechsel zum Batterieantrieb.
Der Branchenverein Swiss eMobility geht davon aus, dass 2035 rund 99 Prozent der Neuwagen Autos mit Elektroantrieb sein werden. Das CO2 im Individualverkehr, das dann noch in die Luft gepustet wird, wird von älteren Autos mit Verbrennungsmotoren stammen.
Zwischenhalt an der Tankstelle
Wir sind am Ladepark in Kemptthal angekommen: hinter uns eine Shell-Tankstelle, vor uns ein Mövenpick-Restaurant. Lars Thomsen holt seinen Adapter aus dem Kofferraum, damit er die Autobatterie aufladen kann. Während das Auto Reichweite tankt, können wir Kaffee trinken – so zumindest sieht es das Werbeversprechen von Europas grösstem Ladenetzwerk vor.
Ionity wurde als Gemeinschaftsprojekt mehrerer grosser Autoherstellenden ins Leben gerufen, um eine europaweit einheitliche Bestromung der verschiedenen Marken zu gewährleisten. Mit Ökostrom, selbstverständlich. Die Autoherstellenden wissen, dass sie ohne das Elektroauto keine Zukunft haben.
Achtung, Achillesferse!
Statt Kaffee zu trinken, sprechen wir mit einem Pärchen um die 60, das wartet, bis ihr E-Peugeot aufgeladen ist. Sie stimmen Thomsens These zu: Ein Leben ohne E-Auto sei auch für sie nicht mehr vorstellbar. Aber nervig sei es schon, dass es mit dem Laden noch immer so lange dauere.
Die beiden sprechen einen wunden Punkt an: Wer alle paar Tage eine Stunde an der Ladestation verbringt und wartet, dass die Autobatterie auflädt, wird bald einmal zu viel Kaffee getrunken haben.
Die Ladeinfrastruktur ist die Achillesferse der Elektromobilität. Laut TCS gibt es derzeit 2068 Standorte mit Ladestationen von 18 Netzbetreibenden. Damit liegt die Schweiz sogar leicht über dem europäischen Durchschnitt.
Die Arbeit der Nacht
Entscheidend für den Erfolg der E-Autos ist deshalb, dass die Besitzerinnen und Besitzer ihre Autos zu Hause aufladen können. Dies auch aus einem anderen entscheidenden Grund: Wenn in der Schweiz alle Neuwagen elektrisch sind, werden wir laut Prognosen bis zu 10.7 Prozent mehr Strom benötigen. Dieser Strombedarf kann aufgefangen werden, wenn die Autos smart laden.
Das Auto wird abends eingesteckt und kann über Nacht ausserhalb des Peaks aufgeladen werden. Für Thomsen ist das auch aus Kundensicht entscheidend: «Solange ich morgens bequem ins vollgeladene Auto steigen kann, ist es eigentlich egal, wie lange es über Nacht geladen hat».
Für Hausbesitzerinnen und -besitzer ist das kein Problem. Für Personen, die eine Wohnung mieten oder besitzen dagegen schon, und das sind immerhin zwei Drittel.
Laut Swiss eMobility sei deshalb gerade für Menschen, die in der Stadt leben, der Umstieg auf ein E-Auto nicht so einfach. Da sich die Schweiz mit Regulierungen schwertut, wird hier nun auf die Freiwilligkeit der Hauseigentümer und -eigentümerinnen gesetzt.
Die nächste Revolution
Nach 20 Minuten ist Lars Thomsens Tesla fertig geladen. Aber als wir wieder starten wollen, wird alles schwarz. Der Bordcomputer ist ausgefallen. Wir haben keinen Tacho, keine Landkarte, keinen Batteriestand. Neustart.
Der ideale Moment für den Zukunftsforscher, um die nächste Trendwende anzukündigen. «Das eigentliche Problem der Autoindustrie ist viel grösser als der Kampf zwischen Elektromotor und Verbrenner. Die grosse Revolution wird das autonome Fahren – und die kommt noch in diesem Jahrzehnt.»
Was ihn so zuversichtlich stimmt und wie das ist, wenn ein Auto ohne Fahrer fährt, führt er gleich in seinem teilautonomen Tesla vor. Er nimmt die Hände vom Lenker: «Die verschiedenen Kameras und Sensoren rund um das Auto schauen die ganze Zeit, wie ich fahre. Sie berechnen, ob ich zu schnell bin, ob ich rechtzeitig bremse – auch, ob ich Schuld bin an einem Unfall.»
Gekoppelt mit künstlicher Intelligenz lernen die Autos von diesen Daten in rapidem Tempo, immer besser zu fahren.
Mehr Autonomie, weniger Auffahrunfälle
Firmen wie die Google-Schwester Waymo arbeiten schon seit Jahren am vollautonomen Fahren. Bisher sind sie immer wieder hinter den Erwartungen der Marktbeobachter zurückgeblieben. Doch erste Projekte gibt es: So fahren in Städten wie Singapur oder San Francisco autonome Busse und Taxis.
In der Schweiz läuft seit fünf Jahren ein Test mit einem autonom fahrenden Postauto in Sitten. Es ist mit 20 km/h unterwegs ist, weil für mehr die Bewilligung fehlt. Es sind Sicherheitsbedenken, die dafür sorgen, dass das vollautonome Fahren derzeit noch mit angezogener Handbremse unterwegs ist.
Was es brauche, sei ein gesellschaftliches Umdenken: «Wir setzen uns müde oder sogar leicht alkoholisiert ans Steuer», sagt Lars Thomsen. «Die meisten Unfälle passieren, wenn jemand unaufmerksam ist. Doch dieses Risiko ist gesellschaftlich akzeptiert.» Der Autopilot hingegen würde 99 Prozent aller Auffahrunfälle gar nicht machen.
Thomsen ist überzeugt, dass das autonome Fahren dann zugelassen wird, wenn es deutlich sicherer ist, als wenn ein Mensch am Steuer sitzt. Und da der Mensch nicht der beste Fahrer ist, würde das schon bald passieren – bis 2030. Die Wetten laufen.
Stichwort «Sharing»
Wenn das Auto dann selbst fahren kann, warum sollte es – wie heute üblich – rund 23 Stunden am Tag am Strassenrand oder im Parkhaus stehen? Wir alle könnten uns die Autos teilen. Dienste wie Mobility bekämen so eine ganz neue Attraktivität, weil die Wagen auf Bestellung direkt zur Haustür kommen würde: Einfach einsteigen und sich sicher chauffieren lassen.
Wenn ein Elektromobil dann noch selbst zur Ladestation fährt, zum Waschen oder zum Service, werden dann noch so viele Menschen wie heute sagen: Ich kaufe mir ein Auto samt Parkplatz, Steuern und Reparaturen?
«Für die Autoindustrie wird das ein riesiges Problem», sagt Zukunftsforscher Thomsen. Selbst dann, wenn nur jede zweite Person, die heute für 40'000 Franken ein Elektroauto kaufe, in zehn Jahren darauf verzichten würde.
Auf lange Sicht rechnet Thomsen damit, dass dank Sharing und autonomem Fahren rund zehnmal weniger Autos auf unseren Strassen unterwegs sein könnten.
Während Thomsen redet, versucht er, uns durch den dichten Zürcher Mittagsverkehr zu manövrieren. Überall Stau – eines der Probleme, die mit der autonomen und geteilten Mobilität vor allem in Schweizer Städten verschwinden könnten. Weniger Autos, weniger Lärm, bessere Luft, mehr Raum – bessere Lebensqualität.
Die Pferdestärken bleiben
Wir sind kurz vor Zürich Erlenbach, wo der Zukunftsforscher seine Agentur «Future Matters» betreibt. Das Resümee nach unserer Fahrt: Es scheint, als würde uns das Auto erhalten bleiben. Und das noch eine ganze Weile. Aber es wird anders funktionieren, als wir es kennen. Es wird nicht mehr uns gehören – und sehr wahrscheinlich müssen wir es nicht mehr selbst fahren.
«Und doch werden wir auch noch in 50 Jahren selbst am Steuer sitzen», beendet Lars Thomsen das Gespräch, «wenn auch nur noch sonntags als Hobby». Genau so wie heute einige Menschen reiten gehen, obwohl wir das Pferd schon lange nicht mehr als Fortbewegungsmittel brauchen.