Mein Bonsai hat, wie mein Kater, einen Namen: Georg. Mein Kater, Herr Schwarzenbach, wirft regelmässig – und mit voller Absicht – Gläser um und gibt mir klar zu verstehen, wenn er Hunger hat.
Georg hingegen regt sich weder, wenn ich ihn giesse, noch wenn der Kater ihm wieder mal ein Blatt ausreisst. Bedeutet das, dass Herr Schwarzenbach ein Bewusstsein hat, Georg aber nicht?
Die Frage ist schon deshalb schwierig zu beantworten, weil der Ausdruck «Bewusstsein» in der Alltagssprache keine fixe Bedeutung hat. Er kann – um nur zwei mögliche Bedeutungen zu nennen – sowohl das Gegenteil von Ohnmacht bedeuten als auch die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und zu hinterfragen. Zumindest im letzteren Sinne hätte Bonsai Georg ziemlich sicher kein Bewusstsein.
Kein zentrales Nervensystem
«Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass Pflanzen ein zentrales Nervensystem haben», erklärt Matthias Erb, Professor für Biotische Interaktionen an der Universität Bern. «Somit haben wir auch keine Hinweise darauf, dass Pflanzen sich in einem menschlichen Sinne Gedanken zurechtlegen oder neue Probleme anhand von gemachten Erfahrungen lösen können.»
Matthias Erb hat als Pflanzenforscher tagein, tagaus mit Pflanzen zu tun. Nebst seiner Stelle als Professor betreibt er einen eigenen Bauernhof. Er muss es also wissen.
Fairerweise muss aber gesagt werden: Definieren wir Bewusstsein als die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen, hätte auch Herr Schwarzenbach kein Bewusstsein. Denn Katzen können sich, um eines der gängigsten Indizien zu nennen, nicht selbst im Spiegel erkennen. Trotzdem würden die meisten von uns Fido oder Tigi nur ungern das Bewusstsein absprechen.
Daraus zu schliessen, dass die Frage nach dem Bewusstsein unsinnig ist, greift zu kurz. Vielleicht müssen wir stattdessen einfach nach einer grundlegenderen Art von Bewusstsein fragen.
Für blosse Dinge – Tische, Regentropfen oder Berge – gibt es keine Welt.
«Das ist das sogenannte phänomenale Bewusstsein. Also Bewusstsein im Sinne von Erleben», sagt Martine Nida-Rümelin. Sie ist Professorin für Philosophie an der Universität Freiburg und Expertin in Sachen Bewusstseinsfragen. «Die blosse Fähigkeit des Erlebens erfordert keine Begriffe, keine Fähigkeit zu denken oder gar auf sich selbst zu reflektieren.»
Wie wir Rot sehen
Ein Beispiel: Wie erklärt man einem farbenblinden Menschen eine bestimmte Farbe? Man kann ihm sagen, dass Rot etwa eine Wellenlänge von 750 Nanometer hat oder eine warme Farbe ist. Wie es aber ist, etwas Rotes zu sehen, kann man nie vollständig verständlich machen.
Wenn wir uns vorstellen, wie es ist, eine Pflanze zu sein, werden wir den Pflanzen damit nicht gerecht.
Solche Erlebnis-Eigenschaften unterscheiden bewusste Wesen von solchen ohne Bewusstsein: «Für blosse Dinge, Gegenstände ohne Innenperspektive, gibt es – metaphorisch gesprochen – keine Welt. Tische, Regentropfen oder Berge sind sicherlich solche Dinge», erklärt Philosophin Nida-Rümelin.
Was empfindet eine Pflanze?
Verstehen wir Bewusstsein in diesem Sinne, ist die Hürde für Baum Georg um einiges kleiner. Und wir scheinen ein einfaches Kriterium zu haben, um zu überprüfen, ob ein Wesen ein Bewusstsein hat.
«Falls zum Beispiel eine Fliege die Sonne auf ihrem Rücken als angenehm warm empfindet, so ist sie ein erlebendes Subjekt», so Nida-Rümelin. Bei einer Katze, die miaut, faucht und schnurrt, sind wir noch schneller geneigt, das zu bejahen.
Aber erfüllt auch Georg dieses Kriterium? Bei einer Pflanze, die sich nicht regt und nicht offen mit uns kommunizieren kann, stellt sich die Frage, ob sie überhaupt etwas empfindet.
Pflanzen reagieren auf die Umwelt
Matthias Erb zufolge haben Pflanzen durchaus eine Art von Wahrnehmung, die aber ganz anders funktioniert als unsere. «Wir Menschen haben Sinnesorgane, die die Umwelt in Signale umsetzen und diese ans Hirn senden. Das Hirn wiederum übersetzt die Signale dann in eine bewusste Wahrnehmung.»
Pflanzen können auch ohne zentrales Nervensystem auf die Umwelt reagieren.
So werden zum Beispiel Schallwellen im Ohr in Nervenimpulse übersetzt, die wir dann als Geräusche oder Töne wahrnehmen. Pflanzen machen etwas Ähnliches, aber ohne zentrales Nervensystem.
«Pflanzen haben eine Vielzahl von molekularen Mechanismen, die es ihnen erlauben, Signale aus der Umwelt direkt in zelluläre Prozesse umzusetzen», sagt Erb. «So können sie auch ohne zentrales Nervensystem auf die Umwelt reagieren.»
Die Frage nach dem Bewusstsein
Pflanzen können aber noch mehr. «Sie erkennen zum Beispiel, wenn sie verwundet werden und können darauf reagieren», erklärt Erb. Über Duftstoffe von Nachbarspflanzen können Pflanzen erkennen, ob diese von Schädlingen befallen sind und so ihre Verteidigung anpassen: «Sie beginnen dann, schneller bittere oder toxische Stoffe abzusondern.» Georg hat also viel mehr drauf, als man ihm auf den ersten Blick zutrauen würde.
Selbst wenn wir aber nun wissen, dass eine Pflanze in einem primitiven Sinne Dinge wahrnimmt – dass sie Informationen aus der Umwelt empfängt und verarbeitet –, bleibt damit nach wie vor ungeklärt, ob mit diesen Wahrnehmungen auch gewisse Bewusstseinszustände verbunden sind. Dafür müssten wir wissen, ob es sich irgendwie anfühlt, eine Pflanze zu sein.
Fehlende Vorstellung pflanzlichen Erlebens
Hier begegnet uns aber ein ganz grundsätzliches Problem: «Falls der Bonsai ein erlebendes Subjekt ist, so haben wir keinerlei Vorstellung davon, wie es für ihn ist, ein Bonsai zu sein», erklärt Martine Nida-Rümelin. Da hilft auch kein MRI-Scanner.
Hieraus könne man geneigt sein zu schliessen, dass Georg ein blosses Ding sei. «Aber das ist ein Fehlschluss. Dass wir uns das Erleben eines Bonsais nicht aus der Innenperspektive vorstellen können, heisst nicht, dass es kein solches Erleben gibt», sagt die Philosophin.
Erb ergänzt: «Es ist aus meiner Sicht auch nur bedingt sinnvoll, wenn wir uns vorzustellen versuchen, wie es ist, eine Pflanze zu sein. Wir werden den Pflanzen damit auch nicht gerecht.»
Unsere Wahrnehmungswelt sei letztlich dominiert von einem zentralen Nervensystem. «Wenn wir das auf eine Pflanze projizieren, verschliessen wir uns einem neuen, offenen Blick auf ein ganz anderes Wesen mit einer ganz anderen Wahrnehmungswelt – einer, die auf einem wunderbaren modularen System basiert», meint Erb.
«Diese Module – Blätter, Wurzeln – können alle unabhängig voneinander die Umwelt wahrnehmen. Und sie können die daraus generierten Informationen in einem riesigen Netzwerk miteinander austauschen und sich anschliessend entsprechend organisieren.»
Wir wissen noch zu wenig
Ist die Frage nach dem Bewusstsein bei Pflanzen also doch sinnlos? Wir können tatsächlich nie ganz sicher sein, ob ein Wesen kein Bewusstsein hat: «Wir können nicht ausschliessen, dass Bewusstsein auf der Grundlage recht unterschiedlicher physikalischer Bedingungen auftreten kann», sagt Nida-Rümelin. «Aus dem Fehlen der Bedingungen, die bei uns für Bewusstsein verantwortlich sind, kann man daher nicht ohne weiteres schliessen, dass wir es mit keinem erlebenden Subjekt zu tun haben.»
Wenn wir pragmatisch an der Überzeugung festhalten, dass die Menschen und Tiere dieser Welt ein Bewusstsein haben, so können wir zumindest die Bedingungen erforschen, unter denen dieses auftritt. «Wir könnten dann mit gutem Grund annehmen, dass Wesen, die uns in dieser speziellen Hinsicht hinreichend ähnlich sind, ebenfalls erlebende Subjekte sind», schliesst Nida-Rümelin.
Bis die Forschung aber so weit ist, gilt vielleicht einfach «im Zweifel für den Angeklagten». Das heisst: Wir sollten Bonsai Georg genauso wenig unnötiges Leid zufügen wie dem Kater Herr Schwarzenbach.