Bauer Georgin Bonifazi erlebt täglich, wie sein Dorf dem Abgrund ein weiteres Stück näher rückt. Auf seinen Feldern öffnen sich von heute auf morgen neue Spalten. So tief, dass er darin seinen kräftigen Arm versenken kann.
Immer öfters muss er den Traktor stehen lassen, weil sich die Wiese derart aufgeworfen hat, dass er sie nicht mehr befahren kann. Es sind die Folgen des Rutsches, der das ganze Dorf bedroht.
Ein Meter pro Jahr – abwärts
Brienz, ein Bündner Bergdorf oberhalb von Tiefencastel, wandert mit einem Meter pro Jahr abwärts Richtung Albula, dem Fluss unten im Tal. Im Berginnern liegt eine Gleitschicht, auf der Brienz immer schneller rutscht.
Das ist noch nicht alles. Seit unten Brienz wegrutscht, schiebt sich auch der Berghang darüber bedrohlich gegen Brienz. Die neusten Erkenntnisse der Geologen: Es könnten 22 Millionen Kubikmeter Fels abbrechen, Brienz unter 20 Metern Schutt begraben.
Felsblöcke rollen bis an die Dorfgrenze
Schon seit Jahren donnern Felsblöcke vom Berg und stoppen erst kurz vor der Dorfgrenze. Eben ist ein gegen 200 Tonnen schwerer Brocken bis auf die Wiese des Brienzer Schulhaus gerollt, das heute geschlossen ist.
Es ist der grösste der dutzenden Steine, die neben Brienz liegen. Und er liegt mitten auf einer von Georgin Bonifazis Wiesen. Dort wird er auch bleiben.
«Was will ich sonst damit tun», sagt Bonifazi. Er sei schon als Kind fasziniert gewesen von den Brocken, die vom Berg hinabgestürzt seien. Doch der Bergsturz, der jetzt droht, entbehrt jeglicher Vergleiche mit den früheren Abbrüchen.
Wasser, das Schmiermittel für die Rutschung
Seit über einem Jahr laufen die Untersuchungen des Rutschgebiets. Die Fachleute haben bereits herausgefunden, dass Brienz auf einer Gleitschicht 150 Meter unter dem Dorf rutscht. Und dass Wasser das Schmiermittel für diese Gleitschicht ist.
Falls es der Boden unter Brienz zulässt, könnte ein Entwässerungstunnel das Dorf retten. Denn es gibt bereits ein Beispiel in der Schweiz, wo das funktioniert hat: In Campo Vallemaggia im Tessin. Hier haben Ingenieure in den 1990er-Jahren eine gewaltige Rutschung mit einem Entwässerungsstollen stoppen können.
Tessiner Tunnel als Vorbild
Campo Vallemaggia rutschte in 100 Jahren 30 Meter gegen das Tal. Häuser stürzen in den Abgrund, die kunsthistorisch bedeutende Kirche stand vor dem Einsturz.
Doch ein fast zwei Kilometer langer Tunnel, 250 Meter unter dem Dorf, stoppte den Rutsch. Pro Jahr fliesst eine halbe Milliarde Liter Wasser durch den Stollen aus dem Berg. Dem Rutsch fehlt so das Schmiermittel – das Dorf hat sich gesetzt.
Die Lösung ist noch nicht greifbar
Noch gibt es keine Anzeichen, dass das in Brienz nicht auch funktionieren könnte. Vorab aber braucht es noch einige Abklärungen: Vier oder mehr Jahre dauert es sicher, bis ein solcher Tunnel gebaut werden könnte.
Für Georgin Bonifazi wäre das ein Segen. Seine Familie hat in Brienz eben erst ein neues Haus gebaut, seine Kinder würden den Landwirtschaftsbetrieb hier gerne weiterführen. Schliesslich habe er das Haus vor zwei Jahren absichtlich aus Holz gebaut, damit ihm der rutschende Untergrund weniger anhaben könne.
Seit der Berg aber abzustürzen droht und Brienz mit Rekordgeschwindigkeit rutscht, blickt er nicht mehr sehr positiv in die Zukunft. «Unsere ganze Existenz ist hier oben. Müssten wir Brienz verlassen, wäre das eine Katastrophe für uns.»