Amerika gilt in vielen Bereichen als das Land der Superlative. Auch was Naturphänomene angeht. Bevor die Weissen aus Europa nach Kolumbus den Doppelkontinent überrollten, zogen in Nordamerika rund 70 Millionen Bisons durch 250 Millionen Quadratkilometer Prärie. Im Norden von Kanada und Alaska bewegten sich jedes Jahr wohl nicht weniger Karibus durch die Weiten der arktischen Tundra. Und in nahezu allen Flüssen der nördlichen amerikanischen Küsten wanderten hunderte Millionen Lachse: Sie waren die Lebens-Essenz ganzer Flusssysteme.
Fische als biologische Drehscheibe
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Dass diese Fische zur biologischen Drehscheibe ganzer Lebensräume wurden, ist durch ihren Lebenszyklus begründet. Der eigentliche Lebensraum der Lachse ist das Meer mit seinen unglaublichen Nahrungsressourcen. Doch der Ozean bedeutet auch Gefahr, vor allem für Eier und Jungfische – allzu schnell werden sie selbst zur Beute. Also haben die Fische im Lauf der Evolution einen Trick entwickelt, den zahlreichen Feinden im Meer zu entgehen: Sie wechseln vom Salz- ins Süsswasser und steigen in die Flüsse auf, um dort abzulaichen. Die ersten, besonders gefährlichen Lebensmonate nach dem Schlüpfen verbringen junge Lachse in den Flüssen und lassen sich dann als etwa eineinhalbjährige, zehn Zentimeter lange Jungfische, sogenannte «Smolts» durch die Strömung ins Meer tragen
Unglaublicher Lebenskreislauf
In den meist ausgedehnten Sümpfen der Mündungsgebiete und entlang geschützter Küstenzonen wachsen sie zu kraftvollen Raubfischen heran, die oft über einen Meter lang werden, und ziehen während zwei bis acht Jahren durchs Meer. Sie haben es im Blut, sich zu bestimmten Zeiten in den Mündungen ihrer Heimatflüsse wieder zu grossen Schwärmen zu versammeln und dann gemeinsam in diese Flüsse aufzusteigen. Eine lange Wanderung, bei der sie in spektakulären Sprüngen tosende Wasserfälle und Stromschnellen überwinden, führt sie unter grossen Strapazen gegen die Strömung und oft über hunderte, ja sogar tausende Kilometer ins Landesinnere bis in jene Oberläufe der Flüsse, in denen sie einst selbst aus dem Ei schlüpften.
Dort schlagen die Weibchen mit dem Schwanz eine sogenannte Laichgrube in den Fluss-Kies und vergesellschaften sich mit einem Männchen, das sich gegen seine Rivalen am Weibchen durchsetzt. Beim Laichakt legen sich die beiden Fische nach langem Vorspiel über der Laichgrube eng nebeneinander; beide dabei zittern heftig und das Weibchen lässt Hunderte von etwa 5 Millimeter grossen, kugelrunden Eiern in die Laichgrupe fallen. Gleichzeitig gibt das Männchen eine Portion Sperma ab, die als weisse Wolke im Wasser die Eier befruchtet. Beim Laichakt sperren die beiden grossen Fische auf merkwürdige Weise ihre grossen Kiefer auf.
Damit ist der Lebenszweck der Lachse erfüllt und ihr Lebenskreislauf geschlossen. Es gibt zwar einige Lachsarten wie den Atlantischen Lachs Europas ( Salmo salar ), bei denen erwachsene Tiere wieder flussabwärts ins Meer schwimmen und in den kommenden Jahren einen zweiten Kreislauf absolvieren. Doch vor allem bei den Lachsen der amerikanischen Pazifikküste der Gattung Oncorhynchus kommt es in der Regel kurz nach dem Ablaichen in den Oberläufen der Flüsse zu Massensterben der erschöpften Fische: Tausende von toten Lachsen liegen in den flachen Bächen oder treiben den Fluss abwärts.
Tote nähren das Leben
Neue Forschungen zeigen, dass dieses Massensterben für die Lebensräume in und an den Flüssen von ausserordentlicher Bedeutung ist: Die Fische verwesen, das heisst, sie werden von Bakterien in ihre chemischen Bestandteile zersetzt. Diese chemischen Bestandteile – vor allem Proteine, Stickstoff und Phosphor – sind Nährstoffe für Pflanzen und Tiere im Fluss. Unzählige Kleinlebewesen ernähren sich von den Resten verwesender Lachse und werden dann wieder selbst zu Futter von Junglachsen und anderen Fischen, die aus den Eiern im Flussbett schlüpfen.
So ernährt eine Generation der Lachse die nächste Generation von Jungfischen – und nicht nur sie, sondern unzählige Organismen im gesamten Flusssystem. Grossräumig betrachtet verkörpern die Lachse im wahrsten Sinn des Wortes einen unglaublichen Transport von Biomasse aus dem Meer, die sie sich im Ozean angefressen haben, über die Flüsse bis weit ins Landesinnere.
Lachs-Stau in den Flüssen
Vor allem an der amerikanischen Pazifikküste haben Lachse einen grossen Artenreichtum entwickelt. Weil die Lachse plötzlich bei der Laichwanderung in den Flüssen miteinander in Konkurrenz gerieten, bildeten sich sogar bei derselben Art Varietäten aus, die zu unterschiedlichen Zeiten wanderten und ablaichten. Beim Königslachs ( Oncorhynchus tshawytscha ) kennt man den Frühlings- den Sommer- und den Herbst-Zug. Der Silberlachs ( O. kisutch ) und der Rotlachs wandern im Spätsommer ( O. nerka ), die Regenbogenforelle ( O. mykiss ) im Frühjahr. Das machte Lachse und andere Wanderfische, die zu hunderten Millionen wanderten, zur biologischen Drehscheibe ganzer Flusssysteme.
Massaker durch die Weissen
Heute ist dieser Reichtum bis auf winzige Reste praktisch verschwunden. Als die Weissen Amerika erobert hatten, begannen sie die natürlichen Ressourcen der Neuen Welt rücksichtslos auszubeuten. In Nordamerika nicht nur Gold, Bisons und Biberfelle, sondern auch Lachse. Was schier undenkbar erschien, nämlich die ungeheuren, biologischen Reichtümer des Kontinents zum Verschwinden zu bringen, schafften die Weissen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in wenigen Jahrzehnten: Die Bisons wurden auf weniger als 30 Tiere regelrecht massakriert, die Biber auf wenige, magere Populationen reduziert und viele Lachszüge verschwanden vollständig aus den Flüssen.
Mit den Tierarten, von denen sie lebten, wurden auch die sogenannten «Native Americans», die Urweinwohner, die wir als «Indianer» bezeichnen, auf unmenschliche Art dezimiert, weil sie der Profitsucht der Weissen im Weg standen. Wenn sie sich zur Wehr setzten, wurden sie zu Feinden deklariert und vernichtet. Dabei scheute man auch vor dem Einsatz von biologischen Waffen nicht zurück: Die weissen Amerikaner verteilten den Stämmen Wolldecken, die mit Pocken-Viren kontaminiert waren – die Seuche raffte zehntausende Ureinwohner dahin.
Hemmungslose Gier
Als die Konservenindustrie soweit entwickelt war, dass man Fisch in Büchsen abfüllen und in der ganzen Welt verkaufen konnte, kannte die Gier nach Lachs keine Grenzen. Entlang der Flüsse entstanden überall Industrieanlagen. Bei solcher Übernutzung war der Zusammenbruch der Lachsbestände nur eine Frage der Zeit und liess nicht lange auf sich warten. So suchte man das Heil im Züchten der Lachse und baute überall umfangreiche Zuchtanlagen. Allein im grossen Flusssystem des Columbia-River, das über 1'500 Kilometer ins Landesinnere reicht, entstanden über 170 industrielle Lachszuchten.
Was zu Beginn als grosser Erfolg erschien, weil viele gezüchtete Junglachse in den Zuchtanlagen überlebten und aufwuchsen – weit mehr als in der Natur –, weckte die Euphorie über grossen Profit in der industriellen Fischzucht. Doch die Ernüchterung folgte bald: Weil man die Jungfische in den Fluss aussetzen muss, damit sie ihren Lebenszyklus im Meer fortführen und schliesslich zurückkehren, lässt sich nicht das ganze Leben der Fische kontrollieren. Heute zeigt sich, dass die Vitalität und die Rückkehrrate der gezüchteten Lachse viel geringer ist als diejenige von Wildtieren.
Das Ende vieler Lachse
Gleichzeitig nutzten andere Industriezweige die Flüsse. Am einschneidensten für die Wanderfische war die Erstellung von Staudämmen zur Energie-Erzeugung. Zehntausende von Kraftwerken versperren seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Lachsen die Wanderrouten und machen einst wilde Gewässer zu trägen Flüssen. Zwar haben viele Kraftwerke Fischtreppen, über die Wanderfische die Staustufen überwinden können.
Doch an einigen strategisch wichtigen Punkten stehen Staudämme ohne Aufstiegshilfen für Fische, die ganze Flusssysteme blockieren. Die Folge: Innert weniger Jahre starben ganze lokale Lachspopulationen mit Millionen von grossen Fischen aus, weil sie nicht mehr in ihre Flüsse kamen und ablaichen konnten. Innert fünf Jahren waren diese Lachse dort ohne Nachwuchs ausgestorben.
Eine Milliarde jährlich für die Lachse
Mit grossem Aufwand versucht man seit Jahrzehnten in Amerika, die industriell wichtigen Lachsarten wieder in die Flüsse zu bringen. Die Zucht wird forciert: Fast jeder Fisch, der aus dem Meer zurück kehrt, wird abgefangen, es werden Eier (Rogen) und Spermienflüssigkeit (Milch) entnommen, die man in Plastiksäcken und Reagenzgläsern zusammenführt zur Befruchtung der Eier. Die Jungfische, die aus solchen Eiern schlüpfen, werden in Grossanlagen mit Kunstfutter aufgepäppelt und dann koordiniert in die Flüsse ausgesetzt.
Doch das reicht nicht: Im besonders durch Kraftwerke betroffenen Lachsgewässer Columbia River setzt die US-Armee Lastkähne ein, die oberhalb von Staustufen die Junglachse aus dem Fluss absaugen und sie in grossen Tankschiffen flussabwärts schippern, um die Verluste der kostbaren Junglachse in den Turbinen der Kraftwerke und in den tosenden Überläufen zu vermindern. Preisfischer werden angeheuert, die in der Wandersaison der Junglachse im trägen Wasser zwischen den Kraftwerken nach Raubfischen angeln, die die Massen von Junglachse fressen: ein Einsatz von Millionen von Dollars. Insgesamt werden in teilweise absurde Aktionen zum Schutz der wirtschaftlich so wichtigen Lachse jährlich ungefähr eine Milliarde Dollar investiert.
Die Natur kann's besser
Heute zeigt sich, dass die Lachse durch künstliche Massnahmen nicht nachhaltig zu retten sind. Nur wenn sie in der Natur ablaichen, durchlaufen sie die Selektion im Fluss, der nur die Stärksten überleben lässt. Diese Selektion braucht es, damit nur Jungfische mit besten Voraussetzungen und Anpassungen ins Meer gelangen: Nur sie haben die Fähigkeit und Energie für die strapaziöse Rückkehr ins Laichgewässer. Dabei hat jeder Fluss seine besonderen Eigenheiten. Nur wenn die Fische an diese Eigenheiten angepasst sind, bewältigen sie die Herausforderungen bis zur eigenen Fortpflanzung. Und diese Selektion geschieht zu einem wesentlichen Teil in der ersten Lebensphase von Junglachsen nach dem Schlüpfen aus den Eiern und den ersten Lebensmonaten im Fluss.
Versuche mit Sockeye-Lachsen, die man in der Natur ablaichen liess, waren vielversprechend: Weil man während der Wanderzeit dieser Jungfische die Kraftwerkschleusen öffnete und die Junglachse ohne Verluste durch Turbinen passieren liess, erhöhte sich die Rückkehrrate im Laichzug einige Jahre später dramatisch. Die Rettung der pazifischen Lachse führt also eindeutig nicht über intensive Zucht, sondern über möglichst optimale Bedingungen für die Fische.
Wir können lernen
Die Geschichte der Lachse entlang der amerikanischen Pazifikküste und der Flüsse ins Landesinnere, ihr Niedergang und die neuen, erfolgreichen Tendenzen, sie wieder mit Hilfe der Natur zurück zu bringen, lässt aufhorchen: Auch bei uns in der Schweiz versucht man Fische in den Flüssen – vor allem Forellen als Verwandte der Lachse – durch künstliche Zucht und Besatzmassnahmen intensiv zu vermehren … mit mässigem Erfolg, weil man trotz allen Anstrengungen insgesamt starke Rückgänge der Fischpopulationen in unseren Gewässern beobachtet. Vielleicht würde nach Jahrhunderten erfolgloser Fischereiwirtschaft ein Umdenken im gesamten Bereich mit weniger Mensch und mehr Natur den Erfolg bringen, auf den unsere bedrohten Fische dringend angewiesen wären.