Für viele sind sie lästige Flecken, die sich zum Beispiel an der Betonmauer des Hauses oder auf einer schicken Holzgartenbank angesiedelt haben – die man mit dem Hochdruckreiniger entfernen möchte. Doch hinter diesen Flecken verbergen sich faszinierende Organismen: Flechten.
«Flechten sind Überlebenskünstler, Teamplayer und wichtige Akteure für die Biodiversität», sagt der Naturschutzbiologe Christoph Scheidegger, der mit zwei Co-Autorinnen ein neues Buch über Flechten der Schweiz geschrieben hat.
Termin im «Langholz» im aargauischen Rothrist. Der Wald hat etwas Zauberhaftes. Hier dominieren keine Buchen wie üblich im Mittelland, sondern Weisstannen, Eichen und Bergahorn. Die Luft ist ziemlich feucht.
Christoph Scheidegger bahnt sich einen Weg durchs Gestrüpp. Vor einem grossen Baum bleibt er stehen. Es ist eine Eiche, moosbewachsen auf der einen Seite, auf der anderen ganz anders: «Man sieht es an der grün-grauen Färbung: Diese Stammseite ist zu 80 Prozent von Flechten bewachsen.»
Diese – regenabgewandte – Seite bleibe meistens trocken, erklärt Christoph Scheidegger. Für Flechten ist dies ideal: «Flechten sind fantastische Spezialisten, die die Feuchtigkeit, die sie zum Leben brauchen, direkt aus der Atmosphäre aufnehmen – sie brauchen gar nie flüssiges Wasser.»
Christoph Scheidegger nimmt seine Lupe zur Hand und schaut sich eine der grün-grauen Strukturen genauer an. Welche Flechte denn hier wachse, will ich wissen. Der Biologe lacht: «Auf einer einzigen Eiche findet man problemlos 60 und mehr Arten», antwortet er. Dabei gebe es die vielfältigsten Formen: Manche würden ausschliesslich in den Borkenrissen wachsen, andere kämen nur in den Ästen der Krone vor.
Weltweit existieren rund 25'000 Flechtenarten – offiziell. Scheidegger vermutet, dass es locker doppelt so viele sind. «Zahlen sind halt Zahlen», sagt er, «ich halte wenig von Zahlen, denn die sind wirklich im Fluss».
Flechten sind Mischwesen
Viel faszinierender findet der Biologe die Natur von Flechten: Es sind Mischwesen. Eine Flechte ist eine symbiotische Lebensgemeinschaft zwischen Pilz und Alge. «Die Oberrinde einer Blattflechte zum Beispiel wird vom Pilz gebildet, und diese kann Feuchtigkeit – Wasser, Regen – und die darin gelösten mineralischen Nährstoffe aufnehmen.»
Im Innern des Pilzes, im sogenannten Flechtenlager, wohnen – wie auf Wäscheleinen aufgehängt – die Algen. An sie gibt der Pilz Wasser und mineralische Nährstoffe weiter.
So versorgt, können die Algen Fotosynthese betreiben. «Im Gegenzug produziert die Alge zuckerähnliche Substanzen, die sie teilweise an den Pilz abgibt.» Dadurch bekommt die Flechte Energie zum Wachsen.
Ein Geben und Nehmen
Das Zusammenleben von Pilz und Alge ist ein Geben und Nehmen, eine unablässige, gegenseitige Fürsorge. So überleben und wachsen Flechten auch an extrem kalten oder heissen Orten, wo Blütenpflanzen keine Chance haben. Gleichsam als «Haut der Erde» sorgen Flechten für stabile Bodenverhältnisse an solchen Extremstandorten, und sie bieten vielen Tieren Nahrung – etwa den Rentieren im hohen Norden.
Was antwortet Christoph jenen, die Flechten weghaben möchten? «Solchen Leuten kann ich nur empfehlen: Schaut euch eine Flechte von Nahem an; nehmt eine Lupe und vertieft euch in die Formen und Farben.» Dem Betrachter werde sich eine neue Welt öffnen.