Rundum fast nur Wasser: Der Ort Muynak lag einst auf einer Halbinsel. Da war früher ein Badestrand, erzählt Dilyorbek Muratov. Es habe auch eine Fabrik gegeben. «Hier hat man in Konserven gepackt, was die zahlreichen Fischer aus dem Aralsee holten: 35 Tonnen pro Jahr.»
Heute blickt Muratov vom ehemaligen Strand nicht mehr auf eine endlose Wasserfläche, die grösser war als anderthalbmal die Schweiz. Heute erstreckt sich hier eine Wüste bis zum Horizont. Auf dem einstigen Seegrund rosten Schiffsgerippe vor sich hin.
Der Anfang vom Ende
1979 – als Dilyorbek Muratov Muynak verliess, um in der sowjetischen Armee zu dienen – lag das Städtchen noch am See. Als er im folgenden Jahr zurückkehrte, war die Wasserlinie bereits zurückgewichen.
Riesige Baumwollplantagen zapften dem See das Wasser ab. Um sie zu bewässern, hatten sowjetische Ingenieure in den Wüsten und Steppen Zentralasiens weit über hunderttausend Kilometer Kanäle angelegt.
Wenn es Salz vom Himmel regnet
Heute sind vom Aralsee noch zwei kümmerliche Restgewässer übrig. Sie bedecken 12 Prozent der einstigen Fläche. Der Rest ist zu einer neuen Wüste geworden: der Aralkum. Sie habe es in sich, sagt Dilyorbek Muratov.
Als er Ende Mai eines Morgens die Haustüre öffnete, war alles weiss. Weiss wie Schnee – aber es war Salz. Ein Sturm trieb die schädliche Fracht nach Muynak und weit darüber hinaus. Noch 700 Kilometer entfernt lagerte sich eine Salzkruste auf Äckern, erntereifen Früchten und Häusern ab.
Es fiel auch salziger Regen. Auf sozialen Netzwerken waren Bilder zu sehen, auf denen sich Menschen mit Atemschutzmasken zu schützen versuchten. Es war das erste Mal, dass das Salz in solchen Mengen so weit getragen wurde.
«Die Menschen sind besorgt»
Die fünf Länder Zentralasiens - Usbekistan, Kasachstan, Turkmenistan, Kirgistan und Tadschikistan haben vor längerem den Fonds zur Rettung des Aralsees gegründet. Vadim Sokolov ist ein Vertreter des Fonds.
Ein Salzsturm dieser Stärke sei überraschend gewesen, sagt er: «Die Menschen sind besorgt, weil vermutlich auch Herbizide und Pestizide verfrachtet wurden. Sie wurden früher von den intensiv bewirtschafteten Baumwollfeldern in den Aralsee geschwemmt.»
Niemand wisse, wie schädlich das alles für Mensch und Umwelt ist, so Sokolov. Unklar sei auch, wie oft künftig mit solchen Salzstürmen zu rechnen ist. Lokale Stürme hätten bereits zugenommen, weil der Tod des Sees das regionale Klima verändert habe.
Der Kongress zur Krise
In der Woche nach dem Sturm treffen sich in der usbekischen Hauptstadt Taschkent Experten und Vertreter von Staaten und internationalen Organisationen, um über die Aralkrise zu beraten.
Am Tag davor sind die Kongressteilnehmer nach Muynak gereist, um sich das Desaster anzusehen. Der Kurzbesuch ist eindrücklicher, als es vielen lieb sein mag. Windböen peitschen Salz und Sand durch die Luft. Es juckt in den Augen. Die Luft ist milchig-trüb. Das Thermometer steht auf 37 Grad.
Nichts wie weg!
Dilyorbek Muratov von Muynak erzählt die Geschichte von jenem Morgen, an dem alles weiss war. Die Menschen, die wie er um den ehemaligen See leben, leiden unter vielerlei Folgen der Umweltkatastrophe.
Mit dem Ende der Fischerei verschwanden 40'000 Jobs – und das in einer schwachen Randregion. Viele Ackerböden sind mit Salz versetzt, die Erträge tief. Viele Menschen haben die Krisenregion verlassen.
Krebserkrankungen und Nierenleiden
Helena Fraser, die Koordinatorin der Vereinten Nationen in Usbekistan, spricht von einer akuten Gefahrensituation. Es würden immer neue Folgen der Umweltkatastrophe auftreten.
Es gibt zum Beispiel Meldungen über überdurchschnittliche Zahlen gewisser Krebserkrankungen und Nierenleiden. Ob dies mit den Schadstoffen vom ehemaligen Seeboden zu tun hat, ist aber unbekannt.
Was bringt der Saxaulstrauch?
Seit Jahren gebe es Hilfsprojekte in der Region, aber sie seien unkoordiniert und erreichen zu wenig, kritisiert Fraser. Ein neuer, koordinierter Hilfsfonds soll dies nun ändern.
Er könnte zum Beispiel die Bemühungen unterstützen, den ehemaligen Seeboden zu festigen. Dafür werden Pflanzen wie der Saxaulstrauch angesiedelt, die Salz und Trockenheit vertragen. Doch das sei schwierig und teuer, sagt Vadim Sokolov vom Fonds zur Rettung des Aralsees.
Zwar wurden 10'000 Quadratkilometer bepflanzt, aber nur 10 Prozent der Pflanzen überlebten. Die nächste geplante Tranche kommt auf 100 Millionen Dollar zu stehen – bei diesen Kosten sei es undenkbar, die ganzen 50'000 Quadratkilometer Wüstenboden aufzuforsten, sagt Sokolov. Man müsse sich aufs Umland von Siedlungen beschränken. Heftige Stürme werden also weiterhin Salz und Gifte grossräumig verteilen.
Hoffnungsschimmer am Horizont
Einen Lichtblick gibt es am Nord-Ende des ehemaligen Sees, auf kasachischem Boden. Ein künstlicher Damm staut das Wasser des nördlichen Zuflusses und erhält so einen Restsee. Auch Fische gibt es wieder.
Usbekistan möchte entlang des südlichen Zuflusses wenigstens Feuchtgebiete erhalten. Zu mehr reicht es nicht, weil die zentralasiatischen Länder nach wie vor 90 Prozent der beiden Zuflüsse für die Landwirtschaft anzapfen.
Eine Frage des Willens – und des Geldes
Und das wird so bleiben, sagt Dinara Ziganshina von der innerstaatlichen Kommission für Wasserkoordination. Der Aralsee sei nicht mehr zu retten – die Landwirtschaft sei zu wichtig für die Region.
Fachleute sagen allerdings, die Landwirtschaft könnte ihren Wasserverbrauch halbieren, wenn zum Beispiel die maroden Bewässerungsanlangen schneller saniert würden. Doch dafür fehlt das Geld und der politische Wille.
Ändert sich das nicht bald, sieht Vadim Sokolov vom Fonds zur Rettung des Aralsees schwarz. Denn der Wasserbedarf steigt, weil die Bevölkerung stark wächst. Zudem droht wegen des Klimawandels vermehrt Trockenheit im Sommer.
Gelinge es nicht, massiv Wasser zu sparen, könnten weite Ackerflächen zur Wüste werden und aus der Aralsee-Krise werde eine Krise von ganz Zentralasien.