Ich gebe es zu: Tauben waren mir bis vor kurzem sowas von egal. Das änderte sich im ersten Lockdown, als ich im Gästezimmer zum Innenhof mein Home Office einrichtete.
Die Tiere flattern und gurren täglich auf der Brüstung vor dem Fenster, immer die gleichen Elf oder Zwölf. Ich sage ihnen guten Morgen, ich kann jede von der anderen unterscheiden und sie haben mittlerweile auch ihre Namen. «Britta», «Esther» und «Chantal» sind Teil meines Alltags geworden.
Mit meinem früheren Desinteresse an Tauben gehörte ich wohl zur grossen Mehrheit. Der Rest teilt sich zwei Gruppen. Jene, die Tauben hasst, und jene, die sie abgöttisch liebt.
Mutter aller Stadttauben
Es war die Felsentaube, die einst als erste zum Menschen fand. Felsentauben sind die wilden Urahnen der Haustaube und somit auch «die Mutter aller Stadttauben».
Was für Felsentauben verwinkelte Höhlen und Klüfte, sind für Stadttauben die Häuserschluchten und Dachstöcke der Metropolen: Der ideale Nist- und Brutplatz. Und das schon seit dem Altertum. Ob Stadttauben verwilderte Haustauben oder längst wieder Wildtiere sind, darüber wird heute genauso heftig gestritten wie über die Vögel selber. Mit allen negativen Auswirkungen. Auch für die Taube: Der Vogel wird völlig unterschätzt.
Champions im auswendig lernen
Tauben, so weiss die Forschung heute, brillieren mit exzellenten Sinnen und kognitiven Leistungen. Tauben sind Champions im auswendig lernen, und ihr visuelles Gedächtnis ist schlicht phänomenal.
In wissenschaftlichen Tests scannen und merken sie sich problemlos 1'000 Bilder. Sie lernen, ob es sich bei einer Buchstabenfolge um ein korrektes englisches Wort handelt oder nicht, und sie können die Kunststile von Picasso und Monet treffsicher unterscheiden.
Geheimnisvoller Kompass
In Freiheit macht sich die Taube das Talent fürs Einordnen und Erkennen von Bildern mit einem fantastischen Orientierungssinn zu nutze. Dank einem biologischen Kompass findet sie immer zu ihrem Heimschlag zurück, egal woher sie kommt, und wie weit sie davon entfernt ist. Sie erkennt und orientiert sich am Magnetfeld der Erde, am Sonnenstand, am Infraschall und an Gerüchen. Doch ganz gelüftet ist das Geheimnis ihres biologischen Kampasses bis heute nicht.
Eben landete auch «Ronnie» wieder zielsicher auf meinem Fenstersims. Dass «Ronnie» ein ER ist, weiss ich erst seit kurzem. Man sieht es Tauben nicht an. Aber als «Ronnie» nach ausgedehntem Turteln mit «Britta»… Ach, Sie wissen schon.