Innerhalb der letzten zehn Jahre hat sich die Zahl der Störche in der Schweiz fast verdreifacht – auf fast 700 Brutpaare im vergangenen Jahr. Eine solche Zunahme hat selbst Bruno Gardelli nicht für möglich gehalten. Der Leiter der Storchenstation Möhlin erinnert sich, wie aufgeregt sie waren, als im Zoo Basel zum ersten Mal ein wildes Storchenpaar ein eigenes Nest baute. Das war 1982.
Ein Boom, der anhält
1950 war der Storch in der Schweiz ganz verschwunden. Zwar wurden schon kurz darauf wieder Störche aus Algerien in der Schweiz angesiedelt – in der Storchenstation Altreu zwischen Solothurn und Grenchen. Es kamen auch weitere Stationen dazu, wie in Möhlin. Aber die Zahl der Störche stieg nur langsam.
Dann begann der Boom, der mittlerweile seit zehn Jahren anhält. Längst werden die Störche nicht mehr gefüttert. Sie fliegen frei und vermehren sich prächtig. Bruno Gardelli ist deshalb entspannt, auch wenn dieses nasskalte Frühjahr nicht sehr storchenfreundlich ist.
Die Müllhalde, ein gefundenes Fressen
In ganz Westeuropa hat die Zahl der Störche massiv zugenommen. Ein zentraler Grund dafür liegt in Südspanien. Auf offenen Abfalldeponien suchen dort Tausende von Störchen im Winterhalbjahr zusammen mit Möwen im stinkenden Abfall nach essbaren Überresten: Fischköpfe, Hühnerbeine, Kartoffeln.
Andrea Flack vom Max Planck Institut für Verhaltensbiologie in Radolfszell folgte den Störchen per Auto nach Spanien. Mithilfe von kleinen Sendern, die sie den Vögeln auf den Rücken schnallt, kann sie deren Position genau bestimmen.
Es sei ein seltsames Bild, sagt Flack über im Abfall wühlende Störche. «Aber der Storch ist ein Opportunist, der sich nimmt, was er kriegen kann.» Nahrung finden die Störche auch in den spanischen Reisfeldern. Der eingeschleppte amerikanische Sumpfkrebs hat sich dort breitgemacht: ein echter Leckerbissen.
«Die schauen sich das voneinander ab»
Junge Störche fliegen oft noch nach Afrika. Ihnen steckt die herkömmliche Reiseroute wohl noch in den Genen. Das Essen in Afrika aber ist spärlicher – ausser auf den Müllhalden in Marokko und Algerien. Zudem werden die in Afrika nach wie vor gejagt.
«Je mehr von ihnen da bleiben, desto mehr Anreize haben die Störche, die in früheren Jahren gezogen sind», sagt Vogelforscherin Flack. Der Storch sei ein sozialer Vogel und nutze das Verhalten seiner Artgenossen, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen. «Die schauen sich das voneinander ab.»
Noch nicht gelernt haben das bemerkenswerterweise die Störche, die von Osteuropa über den Balkan, Israel und Ägypten nach Ost- und Südafrika ziehen. Die Zahl der Störche in Osteuropa hat die letzten Jahren – anders als in Westeuropa – deutlich abgenommen.
Dabei könnten doch auch die Störche aus dem Osten einfach weniger weit ziehen. Auch Andrea Flack hat noch keine Antwort auf die Frage, warum diese Tiere keine Pause machen. Denn offene Abfalldeponien gibt es ja auch in der Türkei oder in Ägypten.
Überwintern in der Schweiz
Und was geschieht, wenn diese Mülldeponien verschwinden? In Spanien zumindest ist das schon lange geplant. Auch in diesem Punkt gibt sich Bruno Gardelli von der Storchenstation Möhlin entspannt. In den letzten Jahren gab es noch eine weitere neue Entwicklung: Immer mehr Störche ziehen im Winter nicht einmal mehr bis Spanien. Sie bleiben ganz da und sparen sich so die Kalorien für den Flug. Letzten Winter blieb zum ersten Mal mehr als die Hälfte der Störche in der Schweiz. Zu fressen finden sie offenbar genug.