«Das ist etwas vom Verrücktesten, das ich je gemacht habe», schiesst mir durch den Kopf, als ich auf dem Plaine-Morte-Gletscher angeseilt an der Kante eines rund 30 Meter tiefen gewaltigen Eislochs stehe.
Gletschermühlen nennt man diese Formationen: Hier, wo ich mich gleich abseile, rauschen im Sommer tausende Kubikmeter Schmelzwasser in die Tiefe.
Abseilen ins Ungewisse
Jetzt, in den Wintermonaten, fliesst kein Schmelzwasser mehr. Ausserdem bewegt sich der Plateau-Gletscher Plaine-Morte kaum, weshalb die Gefahr von Spannungen im Eis, und damit schlimmstenfalls einstürzenden Gletschergängen, relativ klein ist. Man kann den Abstieg also wagen.
Meter für Meter lasse ich mich in die Gletschermühle hinab. Die Steigeisen knirschen im Eis. Mit jedem Meter schwindet das Tageslicht etwas mehr. Ich bin umgeben von mächtigen Eiszapfen, die in die Tiefe ragen. Nach 30 Metern Abseilen habe ich festes Eis unter den Füssen.
Ein Kanalisationssystem im Eis
Ich bin am Grund der Gletschermühle. Hier beginnt ein weit verzweigtes System von Höhlen beziehungsweise Schmelzwasserabflüssen. So ein Gletscher ist also nicht nur ein gewaltiger Eisblock, der ins Gebirge eingebettet ist. Man kann sich das Innere wie das Kanalisationssystem unter einer Stadt vorstellen.
Ich kann nur erahnen, wie sich hier im Sommer das Schmelzwasser langsam ins Eis frisst. Insbesondere, wenn der jährlich volllaufende Faverges-See ausbricht und sich innert kürzester Zeit gigantische Schmelzwassermassen ihren Weg in den Gletscher und letztlich in die Bäche der Region bahnen. Das sorgt in der Lenk immer wieder für Hochwasser-Gefahr und Überschwemmungen.
Campen auf dem Gletscher
Die Forschung versucht deshalb mehr über die Abflüsse auf und im Gletscher zu erfahren. Das ist mit ein Grund, weshalb wir mit «Einstein» diese Expedition in den Gletscher wagen. Denn die Bilder, die wir zurückbringen, dürften auch für Glaziologen eindrücklich sein.
Wir haben für diese dreitägige Expedition ein Camp auf dem Gletscher aufgeschlagen. Begleitet werde ich von einem Bergführer und vom Gletscherhöhlen-Experten Dominik Osswald, der das Innere des Gletschers seit Jahren immer wieder erkundet.
Pechschwarze Eismassen
Unser Weg führt nun noch tiefer in den Gletscher hinein. Wir entscheiden uns nicht für einen der grossen Schmelzwasserabflüsse, sondern kriechen durch einen kleinen Gang an der Seite der Gletschermühle. Zuerst robbe ich einige Meter, dann kann ich wieder aufstehen. Der Gang vor uns wird schnell grösser, schlägt einen 90-Grad-Bogen und mündet in einen riesigen gut fünf Meter hohen Höhlengang.
Ich bin überwältigt ob der schieren Grösse. Es ist wahrscheinlich ein Hauptabfluss des Schmelzwassers. Es kommt mir vor wie in einem gewaltigen Stollen eines Kohlebergwerks. Die Wände sind teils pechschwarz.
Schwarzeis nennt sich dieses Phänomen. Durch den gewaltigen Druck, der hier unten auf das Eis wirkt, ist es enorm kompakt, jegliche Luftblasen werden herausgepresst. Deshalb wirkt das Eis aus der Ferne schwarz. Bei näherer Betrachtung sieht man dann jedoch, wie glasklar es eigentlich ist. Ich kann mit der Stirnlampe tief hineinleuchten.
Tanz in der Tiefe
Wir steigen den grossen Stollen hinab. Bis wir etwa 100 Meter tief im Bauch des Gletschers sind. Auch hier ist noch kein Ende in Sicht. Wir leuchten mit unseren Stirnlampen in die Tiefe des Gangs. Feinste Schneekristalle tanzen im Licht durch die Luft. Was für eine beeindruckende, magische Welt, die sich uns hier offenbart.
So gerne wir noch tiefer hinabsteigen würden: Wir entscheiden uns für die Rückkehr. Denn es wartet noch ein langer Aufstieg zurück ans Tageslicht. Bei aller Faszination für diese schaurige Unterwelt – der Gletscher ist und bleibt unberechenbar.
Doch der Gletscherhöhlen-Experte Dominik Osswald hat mir nicht zu viel versprochen: Die Unterwelt des Plaine-Morte-Gletschers ist atemberaubend.