Wasser ist das Element des ersten Lebens. In ihm entstanden auf der noch jungen Erde die ersten einfachen Organismen. Archäen und Bakterien lebten auf dem Boden der Ozeane und woben netzartige mikrobische Matten. Die ältesten Spuren dieser Gebilde wurden in 3,7 Milliarden Jahre altem Gestein auf Grönland entdeckt.
Doch die Wissenschaft rätselt noch immer, was diesem Leben vorausging. Wie konnten aus Molekülen, aus chemischen Verbindungen, Gebilde entstehen, die sich vermehren konnten und über Generationen hinweg an sich verändernde Umweltbedingungen anpassten? Die meisten Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass ein Molekül der Grundstein allen Lebens war: die Ribonukleinsäure (RNA).
Das Molekül des Lebens
Die RNA ist ein ausserordentlich vielseitiges Molekül. Sie kann auch Aufgaben übernehmen, die heute hauptsächlich die DNA und die Proteine erfüllen: DNA ist die Trägerin des genetischen Codes; die Proteine sind die «Arbeitspferde» in den Zellen. Doch was DNA und Proteine können, das konnte die RNA schon lange: nämlich Informationen speichern sowie chemische Reaktionen auslösen, beschleunigen und aufrechterhalten.
Es ist also gut möglich, dass die patente RNA der universelle Baustein des allerersten Lebens war. So etwas wie das Ursprungsmolekül des Lebens. Die chemisch stabilere DNA und die funktionell flexibleren Proteine entstanden dann erst später im Verlauf der Evolution.
Diese These von einer urtümlichen «RNA-Welt» ist heute die gängigste Theorie zur Geburt des Lebens. Die RNA hatte im Verlauf ihrer chemischen Entwicklung, also noch bevor sie zur Basis des Lebens wurde, eine entscheidende Fähigkeit erlangt: Sie konnte sich selbst vervielfältigen. Zudem machte sie beim Kopieren hin und wieder Fehler – eine Eigenschaft von lebenswichtiger Bedeutung.
Ohne Fehler kein Überleben
Es muss nämlich hin und wieder etwas schief gehen, wenn Organismen sich vermehren. Fehlerhafte Kopien führen zu neuen genetischen Varianten, die unter Umständen an die aktuelle Umwelt besser angepasst sind als die alten. Bestünde der Nachwuchs nur aus perfekten genetischen Kopien, also aus Klonen, dann wäre Entwicklung, Evolution über die Generationen hinweg gar nicht möglich. Ein Stillstand, der das Leben auslöschen würde, sobald die Umweltbedingungen sich ändern.
Zwar ist die RNA keine lebendige Substanz. Aber sie musste ebenfalls eine Entwicklung durchlaufen, bevor sie zum Grundbaustein des ersten Lebens werden konnte. Experten nennen diesen Prozess «chemische Evolution». Im Lauf dieser Entwicklung haben die ersten RNA-Moleküle gelernt, Proteine herzustellen. Diese Proteine wiederum beschleunigten die Vervielfältigung der RNA.
Eine Hülle als Glücksfall
Einer der folgenden RNA-Generationen glückte es schliesslich, sich mit einer Fettschicht zu umgeben – der eigentliche Quantensprung auf dem Weg zum Leben. Denn nun hatten diese Kernmoleküle des Lebens eine schützende Hülle. Auch zu diesem Entwicklungsschritt gibt es nur Mutmassungen.
Irgendwann – so eine der Hypothesen – muss sich ein RNA-Molekül plötzlich mitten in einem winzigen Fettbläschen wiedergefunden haben. Fettmoleküle, so genannte Lipide, schliessen sich zu solchen Blasen zusammen, wenn sie in Wasser geworfen werden. So wie die Fettaugen im Suppenteller.
Schutzwall und Miniatur-Labor
Eingeschlossen in solche Fettbläschen eröffneten sich den RNA-Molekülen nun ganz neue Entwicklungsmöglichkeiten. Die Hülle bot Schutz vor schädlichen Stoffen. Durch die fortlaufende Vervielfältigung stieg zudem die Konzentration der Moleküle im Innern an. Das hat weitreichende Folgen für die chemischen Prozesse: Je höher die Konzentration eines Stoffs ist, desto besser kann er mit anderen Stoffen reagieren.
Bald fanden Lipide und RNA heraus, dass sie gut miteinander können – und blieben folglich zusammen. Die Zahl der Fettbläschen, in der Fachsprache Lipid-Vesikel genannt, vergrösserte sich. Und wann immer ein solches Vesikel in kleinere Bläschen zerfiel, wurden auch die eingeschlossenen RNA-Moleküle auf die neuen Vesikel aufgeteilt. Möglich, dass in dieser RNA-Welt zunächst eine Art «Protozelle» existierte – eine primitive Vorstufe heutiger moderner Zellen, aus denen Pflanzen und Tiere bestehen.
Grauzone zwischen tot und lebendig
Doch in welchem Moment der Entwicklung vom Molekül zur Zelle begann nun das Leben? Auch diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt keine scharfe Trennlinie zwischen toter und lebendiger Materie. Zwischen den Polen «unbelebt» und «belebt» befindet sich ein Kontinuum mit vielen Zwischenstufen: von «nicht-belebt», «noch nicht belebt» über «fast lebendig» bis «lebendig». Eine Art Lebensdämmerung sozusagen.
Viren zum Beispiel sind Grenzgänger des Lebens. Sie können sich zwar vervielfältigen und verändern, aber sie können es nicht im Alleingang. Sie brauchen dafür eine Wirtszelle. Daher gelten Viren nicht als lebendige Materie. Sie sind aber auch keine Vorstufe des Lebens, sondern eine Art «Nicht-Mehr-Leben».
Wissenschaftler vermuten nämlich, dass Viren im Verlauf ihrer Evolution einen Rückschritt gemacht haben. Sie könnten die Nachfahren von Bakterien sein, die den Job ihrer eigenen Vervielfältigung an andere Organismen, an Wirtszellen, delegiert hatten. Dieser Hypothese folgend, lässt sich der Bereich des «Lebendigen» also auch wieder rückwärts verlassen.
Die Urzelle aus dem Labor?
Heute versuchen Wissenschaftler die Entstehung des ersten Lebens im Labor zu simulieren. Zu den Pionieren gehört Nobelpreisträger Jack Szostak von der Harvard Universität. Vor allem die Symbiose von Fettmembran und RNA-Molekülen wird fleissig studiert, und der Nachbau von sich selbständig teilenden Protozellen eifrig geübt. Bisher ohne Erfolg: Noch kann der Mensch tote Materie nicht zum Leben erwecken.