Das Wichtigste in Kürze
- Vor zwanzig Jahren verlor der Schachweltmeister Garri Kasparow ein Revanche-Spiel gegen den IBM-Computer «Deep Blue».
- Der Sieg der maschinellen Intelligenz über das menschliche Genie sorgte weltweit für Aufsehen.
- «Deep Blue» war seiner Zeit voraus – aber noch weit entfernt von heutiger künstlicher Intelligenz, die hochkomplexe Spiele wie «Jeopardy!» und «Go» meistert.
Hunderte Schaulustige sitzen am 11. Mai 1997 im Saal eines New Yorker Hochhauses vor einer Grossleinwand. 300 Journalisten scharen sich um die Bildschirme im Presseraum, unzählige Menschen verfolgen im Internet die gleiche Szene. Kurz vor fünf Uhr stockt vielen der Atem. Auf dem Bildschirm erhebt sich Garri Kasparow entnervt aus seinem wuchtigen Ledersessel.
Später wird er diesen Moment als «einen wichtigen und beängstigenden Meilenstein in der Geschichte der Menschheit» bezeichnen: Der Schachweltmeister aus Aserbaidschan, rund fünfzig Milliarden Gehirnzellen, loses Mundwerk und eine Vorliebe für riskante Züge, hat soeben eine entscheidende Partie verloren – gegen einen Computer.
Nerven aus Stahl
Selten hatte ein Schachspiel so viele Zuschauer wie dieses: Kasparow gegen «Deep Blue». Ein menschliches Genie wird herausgefordert von 480 Speicherchips und einer ausgeklügelten Software, die in einer Sekunde 200 Millionen Schachzüge durchrechnet.
Am Spieltisch werden die Züge abwechselnd von einem der fünf Entwickler der IT-Firma IBM ausgeführt. Über Jahre tüftelten sie an ihrem Schachcomputer. Mit einem Budget von 5 Millionen Dollar schufen sie eine «Brute Force» – eine knallharte Rechenmaschine, mit dem Vermögen, sämtliche Spielzüge logisch abzuwägen.
«Ich schäme mich»
Ein ungeschickter Zug Kasparows im letzten Duell – und der Schachmeister muss gegen die Maschine mit ihren Nerven aus Stahl klein beigeben. Dass er den ersten Match gegen «Deep Blue», neun Monate zuvor, für sich entschieden hatte, daran erinnere sich niemand mehr, sagte Kasparow später, unversöhnlich. Aber auch: «Ich schäme mich.»
Dass maschinelle Intelligenz gegen menschliches Genie ankommen würde, damit hatte kaum jemand gerechnet. Am wenigsten Kasparow selbst: Noch ein Jahr zuvor meinte er, vor 2010 würde kein Computer einen Schachprofi schlagen.
Schach als Königsdisziplin
Schon lange bevor der Computer in den 1940er-Jahren erfunden wurde, galt Schach als Königsdisziplin des Geistes. Der Mathematiker Alan Turing hielt das Brettspiel daher auch für den ultimativen Test maschineller Intelligenz. Denn in einer Partie Schach sind mehr Spielvarianten möglich, als es Atome im Universum gibt.
Seit den 1950er-Jahren gab es rudimentäre Schachcomputer, doch erst schnelle Hardware mit grossem Speicher brachten sie auf Weltmeister-Niveau.
Maschine überholt Mensch?
Die Siegeszüge des Schachcomputers sorgten weltweit für Aufsehen. «Deep Blue irritiert Menschheit», titelte die NZZ nach der Niederlage Kasparows. Fast schon apokalyptisch schrieb die Washington Post von Maschinen, die «monströs intelligent, aber völlig gefühllos» seien.
Das uralte Paradigma von der maschinellen Seelenlosigkeit stehe auf dem Prüfstand, meinte ein Journalist: «Primitives, dafür aberwitzig schnelles Rechnen», nannten andere Kommentatoren die Leistung von «Deep Blue». Oder «Dummheit, die aus der Gescheitheit kommt»: Von der Kunst, der Eleganz des Schachs verstehe der Computer nichts.
Noch lange kein Grund zur Panik – sind sich auch die Schachspieler auf dem Lindenhof gegenüber «Schweiz aktuell» einig.
Kasparow entwickelt ein Jahr nach seiner Niederlage das Zentauren-Schach, bei dem jeder Spieler Schachprogramme zu Rate ziehen darf – heute die Regel bei Schachturnieren.
Und «Deep Blue»? Die Hardware wurde nach ihrem Triumph geschrotet – die Technologie hat überlebt. Heute wird sie etwa in der Risikoanalyse, bei der Verarbeitung grosser Datensätze oder beim Testen neuer Medikamente benutzt.
Von ihm ausgehend entwickelten sich andere Programme: Später gewann das IBM-System «Watson» in der Quizshow «Jeopardy!» und eine Google-Software triumphierte im hochkomplexen Brettspiel «Go» .
«Maschinen haben Algorithmen. Sie haben keine Leidenschaft, sie haben keine Gedanken. Und sie werden sie nie haben. Maschinen träumen nicht», sagte Kasparow vor Kurzem. Vielleicht werden ihn die Künstlichen Intelligenzen Zukunft eines besseren belehren.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 18.5.176, 17:22 Uhr