Es klingt nach Science-Fiction. Ist es aber nicht. «Unsere Vision ist die routinemässige Produktion von Mini-Organen in Schwerelosigkeit», sagt Cora Thiel vom Space Hub der Universität Zürich. Mit Mini-Organen meint sie menschliches Gewebe, beispielsweise Leber-Gewebe oder Knorpel, mit Schwerelosigkeit das Weltall.
Zellen verhalten sich anders
Angefangen hat alles vor fünf Jahren – auf dem Flughafen Dübendorf bei Zürich. Von hier aus starten auch so genannte «Parabelflüge». Mit einem speziellen Steig- und Sturzflug-Manöver kann man für ganz kurze Zeit Schwerelosigkeit erzeugen. An Bord waren auch immer wieder menschliche Stammzellen, also Keimzellen für menschliches Gewebe. Die Mikrobiologin Thiel und ihr Kollege Oliver Ullrich, Mediziner und Direktor des Space Hub, wollten untersuchen, ob sich die Zellen im Hauch der Schwerelosigkeit anders verhalten als auf der Erde, wo sie die Schwerkraft flach hält.
Die Stammzellen verhielten sich anders. Und zwar derart verheissungsvoll anders, dass Thiel und Ullrich ihre Zellen auf die internationale Raumstation, die ISS, bringen wollten – in Schwerelosigkeit nonstop.
Mini-Organe auf der ISS
Inzwischen haben sie – in Kooperation mit der Firma Airbus – zwei ISS-Missionen hinter sich. Zuletzt waren 250 Probenröhrchen für vier Wochen in der Schwerelosigkeit. Die Probenröhrchen wurden auf der Erde mit Stammzellen aus dem Knochenmark von fünf Spendern und unterschiedlichen Nährstofflösungen bestückt. Im Anschluss wurden sie in einen sogenannten Bioreaktor eingesetzt – eine Metall-Box – in etwa so gross wie eine Schuhschachtel. Der Bioreaktor wurde von Florida aus schliesslich auf die ISS geschickt und dort nicht mehr angetastet. «Gearbeitet wird auf der Erde», sagt Oliver Ullrich. «Ausgebrütet im All.»
Das Brüten ist geglückt, wie die Auswertung in Zürich zeigt. «Wir hatten in allen Proben Gewebestückchen», freut sich Cora Thiel. Die Gewebestückchen waren maximal 1,5 Millimeter gross und sind in allen drei Dimensionen gewachsen. Thiel konnte, abhängig von den Nährstofflösungen, in denen die Zellen gehalten wurden, auch typische Gewebemerkmale finden – für Leber, Knochen, Knorpel. Die Gewebeklümpchen sind quasi Mini-Organe, so genannte Organoide, die auf der Erde mindestens 30 Tage intakt bleiben.
Doch wozu das Ganze?
An solchen Organoiden, beispielsweise an menschlichem Lebergewebe, könne man die Toxizität von Medikamenten früh im Entwicklungsprozess testen und Tierversuche ersetzen, erklärt Ullrich. Auch auf der Erde versucht man, Organoide für Medikamententests zu züchten. Damit sich räumliche Strukturen bilden, braucht es eine Matrix, ein Gerüst. Ohne Matrix hält die Schwerkraft dagegen und die Zellen flach. «Was man am Boden normalerweise unter grossem Aufwand im Labor machen muss, übernimmt bei uns einfach die Schwerelosigkeit.», erklärt Oliver Ullrich.
Was man am Boden normalerweise unter grossem Aufwand im Labor machen muss, übernimmt bei uns einfach die Schwerelosigkeit.
Das Forschungsteam ist überzeugt, dass ihre Organoide in Toxizitätstests bereits zum Einsatz kommen könnten. Ein Start-up soll, so die Hoffnung, ihr Produkt demnächst auf den Markt zu bringen.
Oliver Ullrich und Cora Thiel haben bereits eine neue Vision: die Transplantationsmedizin. Man entnimmt dem Patienten Stammzellen, schickt sie ins All und stellt dort das Gewebe her, das man transplantieren möchte. Abstossungsreaktion gäbe es damit nicht mehr. «Das wäre natürlich der Heilige Gral von allem», sagt Ullrich. Aber das ist jetzt wirklich noch Science-Fiction.