Jeden Tag steigt Direktor Marco Cagnotti, ausgerüstet mit Papier und Bleistift, die Treppe zur Kuppel des Sonnenobservatoriums hoch.
Der Astrophysiker öffnet die Kuppel, damit der Himmel sichtbar wird. Dann richtet er das Teleskop auf die Sonne. Statt direkt durch die Linse zu schauen – das wäre gefährlich – betrachtet er die Projektion des Sonnenlichts auf dem Blatt Papier.
Flecken zeichnen
Cagnotti sucht nach dunklen Flecken, die kühlere Stellen auf der Sonnenoberfläche markieren. Diese Flecken erfasst der Forscher – je zahlreicher und grösser sie sind, desto geringer ist die Sonnenaktivität.
Heute ist die Zeichnung schnell fertig. Er findet kaum Flecken – und bei dem wunderschönen Wetter stören auch keine Wolken die Sicht. Marco Cagnotti notiert rasch das Datum und die Uhrzeit.
Manchmal ein Frust
So schnell geht es bei Weitem nicht immer. Wenn der Himmel bedeckt ist, sitzt Cagnotti auch mal zwei Stunden in der Kuppel. «Schiebt sich eine Wolke dazwischen, muss ich oft zehn Minuten warten, bis sie wieder weg ist», erzählt er. Oft friere er dabei. «Hier kann man nicht heizen, weil die erhitzte Luft vor dem Teleskop die Zeichnungen verfälschen würde.»
Die Arbeit im Sonnenobservatorium kann frustrierend sein. Sie macht den Wissenschaftler aber sehr stolz. Er treibt voran, was vor 62 Jahren begann. Seit 1957 wird im «Specola Solare» täglich die Sonnenaktivität erfasst.
Weltweit einzigartig
Das Institut hat seinen Ursprung in Zürich. Dort begann man im 19. Jahrhundert, die Sonne zu beobachten. Wegen des häufig schlechten Wetters in Zürich verlegte man die Station irgendwann ins Tessin.
Heute ist das «Specola Solare» eine von weltweit 80 vernetzten Stationen, die die Aktivität der Sonne beobachten. Jeden Tag schickt Cagnotti das Ergebnis seiner Aufzeichnungen nach Brüssel: Dort liegt das Zentrum der Sonnenforschung.
Die Tessiner Station gilt international als Referenzpunkt: Denn Cagnotti erfasst die Aktivität der Sonne auf exakt dieselbe Weise wie seine Vorgänger und Vorvorgänger vor über 150 Jahren in Zürich. Dadurch ist die schweizerische Aufzeichnungsreihe sehr genau und lässt Vergleiche zu.
Erkenntnisse über das Klima
«Unsere Untersuchungen sind keineswegs eine ‹Art pour l'art›. Es gibt gute Gründe, weshalb wir die Sonne schon so lange erforschen», erklärt Cagnotti.
So könne man etwa Sonnenstürme erkennen, die Satelliten, elektronische Anlagen und Funkverbindungen stören. Oder dem Zusammenhang zwischen der Aktivität der Sonne und dem Klimawandel nachgehen.
Auch wenn die Forschung nahelegt, dass die aktuelle Klimaerwärmung unabhängig von der Sonnenaktivität stattfindet: Unbestritten ist, dass die wechselnde Aktivität der Sonne das Klima im Verlauf der Erdgeschichte immer wieder beeinflusst hat.
Um zu erkennen, wie genau, verfertigt Cagnotti weiterhin täglich seine Sonnenfleckenbilder. Von Hand, wie seine Vorgänger vor 150 Jahren.