Es ist der 27. März 1975 in Bern Bethlehem. Andreas Neugebauer ist elf Jahre alt, als er von seiner Familie weggerissen wird. Ohne Ankündigung und ohne die Möglichkeit, sich zu verabschieden.
Seine alleinerziehende Mutter, die selbst eine traumatische Vergangenheit hat, ruft ihm nach: «Es muss so sein. Es ist das Beste für dich.» Andreas wird auf einen Bauernhof im Oberaargau gebracht. Drei Tage und drei Nächte lang weint er auf seinem Zimmer, ganz allein. Danach kann er Jahrzehnte lang nicht mehr weinen.
Ausbeutung und Gewalt prägen seinen Alltag auf dem Bauernhof. Fast täglich gibt es Schläge von der Bäuerin, ebenso wie Psychoterror. Sein Zimmer ist winzig und hat keine Fenster, im Winter ist es eiskalt.
Er schuftet von morgens um fünf bis abends um zehn. Seine Schmerzen betäubt der Jugendliche mit Schnaps, den er aus dem Vorratskeller stiehlt. Wärme bekommt er nur von den Schafen, die zu seinen einzigen Freunden werden.
Ich war wie gelähmt. Ich hätte mich totschlagen lassen.
Anfänglich erzählt er noch von den Missständen, bei seinem Vormund oder an der Schule. Aber niemand hört ihm zu. Zu Gegenwehr ist er nicht mehr imstande. «Ich war wie gelähmt. Ich hätte mich totschlagen lassen», sagt Andreas Neugebauer heute.
Die Flucht in die Freiheit
Mit siebzehn Jahren flieht er, eines Nachts, in die lang ersehnte Freiheit, ins wilde Leben. Er lässt sich die Haare wachsen, spielt Gitarre, kifft und lebt fünf Jahre auf der Strasse und bei Freunden. Er stiehlt Autos, liefert sich Verfolgungsjagden mit der Polizei und durchzecht Nächte.
«Diese wilde Zeit war auch eine Flucht vor mir selbst», stellt Andreas Neugebauer heute fest, «eine Art von Betäubung». Von harten Drogen wie Heroin oder Kokain lässt er zum Glück die Finger. Sein heroinsüchtiger älterer Bruder Manfred, den er in Bern trifft, wird zum abschreckenden Vorbild.
Mit zweiundzwanzig Jahren beschliesst Andreas Neugebauer, etwas aus seinem Leben zu machen. Er sucht sich einen Job bei der Schweizerischen Post, arbeitet seine Schulden ab, kauft sich eine Wohnung, macht eine kaufmännische Lehre, später ein Nachdiplomstudium in BWL und in Unternehmensführung. Schliesslich erreicht er mehrere Kaderstellen bei der Post. Er arbeitet und arbeitet, bis er 2010 einen psychischen Zusammenbruch erleidet.
Vergangenheit bleibt spürbar
Er weint – nach über dreissig Jahren. Über Monate ist er wie gelähmt. Es dauert ganze vier Jahre, bis er wieder funktionieren kann. Heute ist Andreas Neugebauer sechzig. Es geht ihm gut. Manchmal aber erwacht er in der Nacht, weil er die Schläge von damals spürt.
Seine Lebensgeschichte hat er – nach jahrzehntelangem Schweigen – in einem Buch mit dem Titel «Aufrechtgehen» festgehalten. Damit meint er die innere aufrechte Haltung, die Würde und die Rechtschaffenheit, die er sich bewahrt hat, obwohl ihm alles genommen wurde.
Eine Stimme für Verdingkinder
Andreas Neugebauer ist zu einem Sprachrohr vieler ehemaliger Verdingkinder geworden. Er tritt an Schulen auf und hält Vorträge. Immer mit der Botschaft: «Gebt euch nicht auf, niemals, auch wenn ihr ganz unten seid!» Und vor allem: «Schämt euch nicht für euch und eure Geschichte, sondern seid stolz. Geht aufrecht.»