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Lina Bögli 1895 in Sydney – die erste Station ihrer zehnjährigen Weltreise.
ZVG/Zentrum Lina Bögli
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Lina Bögli: Die Berner Bauerntochter, die um die Welt zog

Eigentlich scheint das Leben für «Ds Bode Lina» vorgespurt: Als jüngste Tochter einer kinderreichen Familie aus dem bernischen Oberaargau erwartet sie ein Dasein als Bauernmagd. Aber es kommt alles anders: Lina Bögli zieht in die weite Welt – und wird die erste Schweizer Reiseschriftstellerin.

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Das Leben von Lina Bögli (1858-1941) ist eine Geschichte von Mut, Emanzipation und sozialem Aufstieg. Die Tochter eines Berner Kleinbauern arbeitet sich von der Kindermagd hoch bis zur gefragten Sprachlehrerin. Sie reist alleine von Australien über Hawaii bis in die USA - und ihr Buch über ihre zehnjährige Weltreise wird zum Bestseller. Diese Zeitblende zeichnet die Spuren nach, die Lina Bögli hinterlassen hat und fragt: Was hat uns die Reisepionierin heute noch zu sagen?

Haben Sie Feedback oder Fragen? Wir freuen uns auf Ihre Nachricht via zeitblende@srf.ch

In dieser Folge zu hören:
• Margret Nyfeler-Bögli, Ururgrossnichte von Lina Bögli
• Heinrich und Verena Bögli, Urgrossneffe von Lina Bögli und Partnerin
• Heidi Witzig, Historikerin
• Judith Arlt, Literaturwissenschaftlerin und Autorin

Literatur:
• Bögli, Lina (2024, zweite Auflage): Talofa. In zehn Jahren um die Welt. Basel: Lenos Verlag. Titel der Originalausgabe: Vorwärts. Briefe von einer Reise um die Welt (erstmals erschienen 1906).
• Bögli, Lina (2019): Immer vorwärts. Basel: Lenos Verlag. Erstmals erschienen 1915 im Verlag Huber & Co in Frauenfeld.
• Arenz, Bärbel/Lipski, Gisela (2009): Mit Kompass und Korsett. Reisende Entdeckerinnen. Cadolzburg: Ars Vivendi Verlag.

Weiterführende Links:
• Zentrum Lina Bögli in Herzogenbuchsee: https://www.lina-boegli.ch/de/das-zentrum
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Audiotranskript
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Dieses Transkript wurde automatisch erstellt und nur formal überarbeitet, daher kann es Ungenauigkeiten und Fehler enthalten.
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Leonie Marti:
2. Juli 1892.
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Sprecherin liest Text von Lina Bögli:
Meine liebe Elisabeth. Fürchte nicht etwa, dass ich verrückt geworden bin, obwohl ich dir hiermit die absonderlichste Idee mitteile, die je ein weibliches Menschenkind gefasst hat. Höre und staune! Ich bin auf dem Punkte, eine Reise um die Welt zu unternehmen, ganz allein und sozusagen ohne Geld.
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Leonie Marti:
Wir schreiben den Sommer 1892. Die 34-jährige Berner Bauerntochter Lina Bögli besteigt in Krakau Polen, den Zug. Es ist der Start ihrer ersten Weltreise. In Brindisi, Süditalien, geht sie an Bord eines Dampfschiffs und fünf Wochen später in Sydney, Australien, an Land. Ihre nächsten Stationen heißen Neuseeland, Samoa, Hawaii, USA und Kanada. Nach genau zehn Jahren kehrt Lina Bögli zurück und schreibt ein Buch über ihre Reise. Es ist ein Bestseller. Aus der Bauerntochter, die in bescheidenen Verhältnissen in den Berner Bergen aufwächst, wird die erste Schweizer Reiseschriftstellerin.
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Heidi Witzig (Historikerin):
Eine Karriere zu machen aus diesen ärmlichen Verhältnissen, das ist schon sehr speziell.
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Judith Arlt (Literaturwissenschaftlerin und Autorin):
Sie hat es den jungen Mädchen Mut gemacht. Getraut euch was? Man kann auch als Frau allein kann man es schaffen.
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Margret Nyfeler-Bögli (Ururgrossnichte von Lina Bögli):

Sie jammert nicht. Ich bin froh. Und sie macht einfach.
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Leonie Marti:
Das Leben von Lina Bögli ist die Geschichte einer Frau, die ihren eigenen Weg ging. Es ist eine Geschichte von Mut, Unabhängigkeit und sozialem Aufstieg. Und es ist eine Geschichte, die in der Schweiz kaum bekannt ist. Diese Zeitblende folgt den Spuren der Reisepionierin Lina Bögli. Mein Name Leonie Marti.
Er ist aus Holz und hat an der Vorderseite zwei Schlösser aus Metall. Der Reisekoffer von Lina Bögli oder ich würde eher sagen die Reisetruhe. Heute kann man sich das kaum vorstellen, aber mit diesem sperrigen Ding ist. Lina Bögli vor über 130 Jahren um die Welt gereist. Heute steht der Koffer im Kornhaus in Herzogenbuchsee. Hier im Dachstock sind an diesem Tag Schülerinnen und Schüler der örtlichen Oberstufe zu Besuch. Sie schauen sich Briefe, Postkarten, Reisepässe und Tagebücher an. Es sind alles Dokumente von Lina Bögli. Seit fünf Jahren gibt eine kleine Dauerausstellung im Kornhaus Herzogenbuchsee Einblick in das Leben der Reiseschriftstellerin. Ein Leben, das die Siebtklässlerinnen und Siebtklässler beeindruckt.
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Schüler:in:
Ich finde es sehr cool, dass sie so eine Weltreise gemacht hat, weil es halt vor langer Zeit ist und sie einen großen Koffer dabei hat.
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Schüler:in:
Ich finde es faszinierend, dass sie mal da gelebt hat, wo wir leben.
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Schüler:in:
Was ich auch faszinierend gefunden, dass man halt im 19. Jahrhundert als Frau gereist ist, wo dann die Frauenrechte noch nicht so verbreitet sind.
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Schüler:in:
Ich habe auch das Gefühl, dass sie dann etwas erreicht hat, was er nie mehr geschafft hat in dieser Zeit.
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Leonie Marti:
Lehrerin Carolin Rothacher behandelt im Unterricht gerade das 19. Jahrhundert, und da habe sich ein Besuch in der Ausstellung im Dorf angeboten.
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Lehrerin Carolin Rothacher:
Wo mir das immer noch wichtig ist, Wenn man etwas anlegt im Schulfach, dass man, wenn man irgendwie eine Möglichkeit hat, einen lokalen Bezug zurückzuholen. Und das ist natürlich mit Lina Bögli, die bietet jetzt einfach alles an.
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Leonie Marti:
Für viele Ihrer Schülerinnen und Schüler steht fest Würde Lina Bögli heute leben, würde sie in der einen oder anderen Form von sich reden machen.
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Schüler:in:
Ich könnte mir vorstellen, dass Sie, wenn sie heute leben würde, dass Sie vielleicht mit einem Camper um die Welt fahren würde und dort immer so Teil-Jobs machen würde.
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Schüler:in:
Sie würden sicher Social Media machen.
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Schülerin 1:
Ich denke, sie wäre so Insta-Influencerin oder so.
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Leonie Marti:
Dass aus Lina Bögli die erste Schweizer Reiseschriftstellerin würde. Dieser Weg ist alles andere als vorgezeichnet. Das lese ich in der ersten Recherche über Lina Bögli immer wieder. Und um zu verstehen, was das genau bedeutet dafür fahre ich in die Buchse Berge. So heisst das hügelige Gebiet in der Nähe von Herzogenbuchsee im bernischen Oberaargau. Hier kommt an einem Frühlingstag, genau am 15. April 1858 Lina getauft als Karolina auf die Welt.
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Navigationssystem:
Links abbiegen, Dann befindet sich das Ziel auf der rechten Seite.
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Leonie Marti:
Und hier werde ich von einer Nachfahrin von Lina Bögli empfangen.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Mein Name ist Margret Nyfeler, geborene Bögli und Lina Bögli, ist meine Ur Ur Großtante.
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Leonie Marti:
Margret Bögli selber ist hier auf dem Bauernhof in Spich aufgewachsen. Hier war Lina regelmässig zu Gast bei ihren Verwandten. Margret, Eltern, Vreni und Heiri wohnen mittlerweile im Stöckli. Sie sind beim Gespräch mit dabei.
Mittlerweile sitzen wir alle am Tisch im Wohnzimmer. Heiri selbst hat keine direkten Erinnerungen mehr an Lina. Er war drei Jahre alt, als sie starb. In der Familie teilt man aber durchaus Erinnerungen an sie, meint seine Frau Vreni.
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Verena «Vreni» Bögli:
Das sei eine strenge Frau gewesen. Genau weiss ich es nicht. Sie müssen. Den Rasen mähen. Vor dem Haus oder das Wetter im Mai oder was?
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Leonie Marti:
Auch Margret Nyffeler Bögli hat ihre Ururgroßtante nie persönlich gekannt. Sie sei aber schon immer fasziniert gewesen von ihren.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Fantasie und Geschichten. Das hat mich interessiert. Ob man die alten Bücher und die Toten. Oder wie soll man das? Das hat mich schon sehr fasziniert. Aber das Reisen einerseits und und da haben Sie Bücher geschrieben hat. Also das ist für mich auch eine Verbindung in die Welt draussen.
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Leonie Marti:
Aufgewachsen ist Lina Bögli nicht weit von hier im Weiler Bodenschwand. Das brachte auch den Übernamen Adelina ein. Das Haus steht noch, erzählt Margret Nyffeler-Bögli.
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Margret Nyffeler-Bögli:
Wenn man das Haus auf dem Boden. Das ist wirklich so ein Haus, wo das Dach bis fast zum Boden geht. Also ich sehr einfache Verhältnisse, wobei aber speziell ist, dass sie wirklich aus der zweiten Ehe von ihrem Vater ist und der das sind die grösseren Geschwister, die schon ausgeflogen. Also ich denke es ist schon einiges. Sie schreibt auch viel von ihren Träumen.
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Leonie Marti:
Es sind Träume, in denen sie mit Kaisern und Königin am Tisch sitzt, in den höchsten Kreisen verkehrt. Eine Gesellschaft, die für die Tochter eines Kleinbauern unerreichbar scheint. Als Nachzüglerin verbringt Lina eine einsame Kindheit, und mit zwölf Jahren erlebt sie einen Einschnitt.
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Margret Nyffeler-Bögli:
Es heisst, die Biografie der Mutter sei gestorben. Aber mittlerweile stimmt es nicht genau. Erst später, als sie 16 ist gestorben, weil dort Familie stirbt. Aber vielleicht ist sie auch erkrankt. Auf alle Fälle ist es für Jahre in den Jura geschickt und dort hat sie einen Französischlehrer. Aber sie schlägt wieder Unterricht über.
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Leonie Marti:
Dass Kinder aus armen Verhältnissen als Magd in fremde Familien geschickt werden, verdingt werden. Das ist für diese Zeit typisch. Das erzählt mir die Historikerin Heidi Witzig. Dafür verlassen wir die Stube in Spiez und wechseln ins Radiostudio in Bern. Heidi Witzig hat viel zur Geschichte der Frau in der Schweiz geforscht und erzählt mir, was für ein Leben Lina Bögli typischerweise erwartet hätte.
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Heidi Witzig:
Denken Sie an Gotthelf Ist zwar früher, aber es hat sich dort nicht so viel geändert. Ein typischer Lebensentwurf wäre. Sie bleibt als Magd auf einem Bauernhof. Wenn sie Chancen hat, heiratet sie einen Knecht, wenn sie kann. Oder sie findet einen Mann, der vielleicht wie Ueli, der Pächter, die Chance hat, ein Pächter zu werden. Das wäre eigentlich die beste Chance, die ein solches Mädchen hat.
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Leonie Marti:
Es kommt anders. Nach ihrer Zeit als Kindermarkt im Jura kehrt Lina Bögli nach Urnäsch wand zurück. Sie arbeitet drei weitere Jahre als Kindermarkt in der Region und schnuppert erstmals Luft im Ausland. Eine Familie aus der Gegend stellt sie als Kinderund Zimmermädchen an und nimmt sie mit nach Neapel, Italien. Und dann, 1879, erfolgt die entscheidende Wende. Eine polnische Adelsfamilie wählt Lina Bögli aus 100 Bewerberinnen aus. Als Erzieherin für die Kinder mit Sack und Pack reist die 21-jährige Lina nach Kita Novice, ein Dorf in der Nähe von Krakau.
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Heidi Witzig:
Und dort hat sie offensichtlich Glück gehabt, dass sie ausgelesen wurde als Gouvernante dann in diese polnische adelige Familie und das wurde ja dann auch ihre Heimat, ihre Möglichkeit etwas zu lernen und sich fortzubilden, das war ihre Chance.
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Leonie Marti:
Lina Bögli profitiert vom offenen, gebildeten Haushalt und kann Geld sparen. 1200 Franken legt sie von ihrem Gouvernantenlohn auf die Seite und kehrt damit in die Schweiz zurück. Hier erfüllt sie sich einen grossen Traum. Sie schreibt sich an der Ecole Superieur in Neuenburg ein und beginnt die Ausbildung als Lehrerin. Ein erstaunlicher Schritt, sagt die Historikerin Heidi Witzig.
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Heidi Witzig:
Das Lehrerinnenpatent zu machen, damit sie nachher auch in den Schulen unterrichten kann. Nicht in allen, aber immerhin. Das zeigt, dass sie einen großen Ehrgeiz hatte. Und sie muss unglaublich intelligent gewesen sein.
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Leonie Marti:
Trotz Intelligenz. Lina Bögli braucht Nachhilfestunden in Englisch und Französisch und spart sich die 2-jährige Ausbildung von den Rippen ab. Gemäß ihren Tagebucheinträgen genügen ihr zum Frühstück und Abendessen. Dünner Tee ohne Milch mit Brot. Als Lina 30 Jahre alt ist, ist es geschafft. Lina erhält die Lehrerinnendiplom als älteste Schülerin des Instituts. Und sie hat noch Geld übrig. Damit macht sie einen Abstecher nach England, arbeitet dort als Erzieherin und perfektioniert nebenbei ihr Englisch. Anschließend kehrt Lina Bögli zurück zur polnischen Familie in der Nähe von Krakau, und von dort bricht sie schließlich 1892 zu ihrer ersten Weltreise auf. Es ist eine Reise ins Ungewisse. Fünf Wochen lang tuckert das Dampfschiff Ballarat vom italienischen Brindisi über den Suezkanal und den Indischen Ozean bis nach Sydney, Australien. An Bord sind englische Offiziere, Ingenieure, Ärzte, Bräute, die in Australien von ihren Männern erwartet werden. Und Lina Bögli. Als die Berner Bauerntochter in Sydney an Land geht, hat sie genug Geld, um drei Wochen zu überstehen.
Mit anderen Worten Sie braucht dringend Arbeit. Im Buch Vorwärts, das Lina Bögli Jahre später veröffentlichen wird und das in Briefform verfasst ist, beschreibt sie ihre Arbeitssuche.
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Sprecherin liest Text von Lina Bögli:
So lass dir meinen Feldzug folgendermaßen beschreiben. Ich ging also von Schule zu Schule, wie ich mir vorgenommen hatte, stellte mich den Vorsteherinnen vor, sagte ihnen, warum ich gekommen und bat sie, mein Diplom anzusehen. Leider war man aber überall, wo ich hinkam, mit Lehrern versehen, so dass ich mich mit guten Worten begnügen mußte. Gott, wie traurig niedergeschlagen und müde ich oft nach Hause kam.
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Leonie Marti:
Doch wieder hat Lina Glück. In einer Schule springt kurzfristig eine Französischlehrerin ab. Sie kann übernehmen. Es ist der Beginn einer langen Karriere als Sprachlehrerin. Australien, Neuseeland, Samoa, Hawaii, USA und Kanada. Überall, wo Lina Bögli ihren Fuß an Land setzt, fängt sie wieder von vorne an Sie unterrichtet an Mädchenschulen, Gymnasien in gehobenen Familien. Sie spinnt ein grosses Kontaktnetz, ein Netz, das ihr ermöglicht, in ihren Ferien zu reisen, wie etwa durch diese Einladung einer Schülerin ins australische Hinterland, wo sie auch gleich ihre ersten Reiterfahrungen macht.
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Sprecherin liest Text von Lina Bögli:
Wie erstaunt war ich daher, als ich ausser einem von sechs Ochsen bespannten Wagen Weit und breit kein Fuhrwerk entdeckte, nichts als Pferde und Männer, Männer und Pferde, wo ich auch hinsah. Ich fing an zu begreifen, bevor mir der Vetter vorgestellt wurde. Da war gar kein Wagen, sondern ich musste zu Pferd die vielen Meilen zwischen Hier und Lake Chur well zurücklegen. Ich, die ich im Leben nie auf einem Pferde gesessen.
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Leonie Marti:
In Neuseeland trifft Lina Bögli einen 90-jährigen Maori König, der sie am liebsten aufessen möchte. In Hawaii wird sie vom Unterrichtsminister zur ersten Lehrerin für moderne Sprachen am Gymnasium berufen und erlebt 1898 hautnah mit, wie die Insel von den USA annektiert wird. In den USA besucht Lina Bögli Salt Lake City und macht sich ein Bild über die Glaubensgemeinschaft der Mormonen.
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Sprecherin liest Text von Lina Bögli:
Es wurde mir nämlich gesagt, es seien hier sehr viele Schweizerinnen, die durch falsche Vorspiegelungen aus ihrer Heimat hierher gelockt wurden und nun hier als polygamische Weiber ein unerträglich elendes Leben führen. Ich hatte mir nun vorgenommen, herzukommen, die Sache zu studieren und dann an einige der besten Schweizer Zeitungen zu berichten.
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Leonie Marti:
Lina beobachtet genau und kommt zu einem überraschenden Schluss, wie sie später in ihrem Buch schreibt.
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Sprecherin liest Text von Lina Bögli:
Aus allen meinen Beobachtungen ziehe ich folgenden Schluss Im Vergleich mit unserer guten Ehe ist die Mormonenehe eine armselige Einrichtung. Aber im Vergleich mit unserer schlechten ist die Mormonenehe sogar sehr gut.
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Leonie Marti:
Die Erfahrungen von Lina Bögli. Es sind erstaunliche Erfahrungen für diese Zeit, Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Erfahrungen, die eigentlich Männern vorbehalten waren, sagt die Historikerin Heidi Witzig.
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Heidi Witzig:
Frauen gehören ja in die Familie. Ich meine, wir sind im 19. Jahrhundert, sogar Anfang 20. Jahrhundert. Und das Gouvernanten oder Lehrerinnen mit der Familie, reisen oder auch Töchter oder so, das ist völlig normal. Aber allein das ist. Das ist eigentlich für Männer das.
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Leonie Marti:
Lina Bögli. Diese Reise gelingt sei auch ihrem Talent zu verdanken, auf Leute zuzugehen.
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Heidi Witzig:
Sie hat sich selber Netze geknüpft, die wirklich gehalten haben, das Leben lang, über alle Kontinente hinweg. Das ist eine eine absolut enorme Leistung. Und dass Sie das als Frau unbehelligt, sagen wir wir hoffen unbehelligt unbehelligt machen konnte, das ist nochmals eine ganz spezielle Leistung.
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Leonie Marti:
Und noch etwas unterscheidet Lina Bögli von anderen Reiseschriftstellerinnen, die in der Schweiz später von sich reden machten Zum Beispiel Annemarie Schwarzenbach.
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Heidi Witzig:
Es ist eine Karriere bei Lina Bögli, bei Annemarie Schwarzenbach. Das ist ein Ausbruch und ein mißglückter Ausbruch, sozusagen. Aber eine Karriere zu machen aus diesen ärmlichen Verhältnissen, das ist schon sehr speziell.
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Leonie Marti:
12. Juli 1902 Am Bahnhof von Krakau, Polen. Hier ist Lina Bögli auf den Tag genau vor zehn Jahren zu ihrer Weltreise aufgebrochen. Und hierher kommt sie jetzt wieder zurück. Sie ist 44 Jahre alt und reich an Erfahrungen. Lina Bögli quartiert sich wieder um bei der polnischen Adelsfamilie ein. Die Kinder, die sie früher erzogen und unterrichtet hat, sind mittlerweile ausgeflogen. Lina hat Zeit, ihre Reiseerfahrungen niederzuschreiben. Auf Englisch veröffentlicht sie 1904 ihr erstes Buch. Es heißt Forward auf Deutsch vorwärts. Und es begeistert Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt. Auf neun Sprachen wird das Buch übersetzt. 1906 erscheint beim Huber Verlag in Frauenfeld auch eine deutsche Ausgabe. Lina Bögli ist die erste Schweizer Frau, die über ihre Reisen schreibt, und ist damit höchst erfolgreich. Weshalb? Um diese Frage zu beantworten, wähle ich eine Telefonnummer in Norddeutschland.
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Judith Arlt:
Hallo?
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Leonie Marti:
Am anderen Ende der Leitung ist Judith Arlt. Die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, kommt aus Basel und lebt mittlerweile am deutschen Wattenmeer und hat sich eng mit Lina Bögli auseinandergesetzt. Sie hat zwar nie wissenschaftlich zu Lina Bögli publiziert, aber einen eigenen Roman mit der Figur Lina Bögli geschrieben. Dafür hat sie zahlreiche Quellen ausgewertet, unter anderem Lina Böglis Tagebücher zum Erfolg von Lina Bögelis Buch Farid, sagt Judith Arlt.
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Judith Arlt:
Ich glaube, es war für die damalige Zeit schon auch ein erstaunliches Buch. Und sie schreibt ja auch immer wieder, dass sie von irgendwelchen Leuten rund um die Welt Reaktionen auf das Buch kriegt, weil es eben auch auf Englisch vorlag.
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Leonie Marti:
Ein geschickter Schachzug sei auch die literarische Form. Lina Bögli schreibt ihren Reisebericht in Briefform, gerichtet an eine gewisse Elisabeth. Ob es diese Elisabeth tatsächlich gab oder nicht, ist unklar. Fest steht Mit dieser Briefform habe sie ihr Publikum direkt angesprochen, insbesondere junge Frauen.
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Judith Arlt:
Sie hat nicht an Gleichaltrige geschrieben, sondern sie hat eher eine pädagogische Mission erfüllt und hat den jungen Mädchen Mut gemacht Getraut euch was? Man kann auch als Frau allein. kann man es schaffen.
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Leonie Marti:
Doch weshalb ist Lina Bögli überhaupt zu einer 10-jährigen Weltreise aufgebrochen? Ist es allein die Neugierde, der Wissensdurst, der Wunsch nach sozialem Aufstieg? Beim Durchforsten der Tagebücher stößt die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Judith Arlt noch auf einen weiteren Grund.
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Judith Arlt:
Nach ihren Tagebüchern war es eben Liebeskummer.
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Leonie Marti:
Lina Bögli bleibt ihr Leben lang unverheiratet. Das wäre beinahe anders gekommen. In Polen soll sich die junge Lina nämlich in einen Offizier verliebt haben. Offizier Pjak.
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Judith Arlt:
Im Tagebuch schreibt sie Irgendwann Heute vor fünf Jahren habe ich eben zum Ersten Mal getroffen. Und da begann die Sturm- und Drang-Periode meines Lebens, die einzige, die ich je erlebt habe. Das sind so geheimnisvolle Formulierungen.
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Leonie Marti:
Geheimnisvolle Formulierungen, die auf eine intensive Liebesbeziehung hindeuten. Es ist aber eine Liebe, die unerfüllt bleibt.
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Judith Arlt:
Weil er hat im österreichischen Heer gedient, und er hätte eine Offizierskaution bezahlen müssen. 50.000 Kronen. Es war eine so große Summe, die sie beide nicht einfach so aufbringen konnten.
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Leonie Marti:
Das alles geschah vor Lina Böglys 10-jährige Weltreise. Gut möglich also, dass sie auch aus Liebeskummer loszog, so Judith Arndt. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1910. Lina Bögli unterrichtet in einem Mädcheninternat am Bodensee. Sie wird Zeugin, wie von hier aus die ersten Zeppeline in die Luft steigen. Sie ist jetzt 52 Jahre alt und es zieht sie nochmals in die Ferne Via Moskau und Wladiwostok reist Lina Bögli nach Japan. Drei Jahre wird sie im Fernen Osten verbringen, wiederum als Sprachenlehrerin für gehobene Kreise. Sie wird zu Hochfesten der japanischen Kaiserin geladen, nimmt die eindrucksvolle Ruhe in Tokio wahr. Als der Kaiser 1912 stirbt und sie erlebt die Unruhen der noch jungen chinesischen Republik. Die vielen toten Felder machen nie Eindruck. Im Gegensatz zu ihrer früheren Reise wird sie aber mit den Menschen in Ostasien nicht warm. In Japan ist sie schockiert darüber, wie die Männer ihre Frauen behandeln. Das zeigt sich an diesem Gespräch mit einem Japaner, das Lina später niederschreibt.
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Sprecherin liest Text von Lina Bögli:
Als ich neulich zu einem von ihnen, der mir von Spaziergängen in der schönen Frühlingsnatur vorgeschwärmt hatte, sagte Jetzt müssen Sie recht viel mit Ihrer jungen Frau spazieren gehen. Streckte er, wie abwehrend beide Hände aus und rief ich, mit meiner Frau spazieren gehen, ich müsste mich ja schämen. Aber hören Sie, wenn Sie solche Abneigung gegen Frauen Gesellschaft haben, wie kommt es dann, dass Sie mich immer zu Ausflügen, Theatern usw einladen? Ich bin ja doch auch eine Frau. Oh, Sie, Das ist etwas ganz anderes. Sie sind eine Lehrerin. Sie sind so gut wie ein Mann.
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Leonie Marti:
Auch über diese Zeit schreibt Lina Bögli später ein Buch. Immer vorwärts, heisst es. An den Erfolg des ersten Buches mit dem Titel Vorwärts kann sie jedoch nicht anknüpfen, sagt die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Judith Arlt.
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Judith Arlt:
Das zweite Buch hatte auch einfach historisch Pech.
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Leonie Marti:
Denn es erscheint 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, und die Voraussetzungen für dieses zweite Buch seien sein auch ganz anders gewesen als beim ersten Buch.
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Judith Arlt:
Sie hatte bereits mit Huber einen Vorvertrag abgeschlossen. Dass der das Buch, von dem da ja noch nichts vorhanden ist, aber dass er das Buch dann verlegen wird und sie schreibt an ein Schweizer Publikum, das ist ganz eindeutig. Also sie vergleicht ganz viele Sachen immer mit der Schweiz. Was würde man in der Schweiz sagen, wenn. Was würde eine Schweizer Mutter sagen, wenn. Wie funktioniert eine Schweizer Ehe im Vergleich zu einer japanischen Ehe usw. Sie richtet sich an ein Schweizer Publikum, ein. Publikum,
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Leonie Marti:
Das natürlich deutlich kleiner sei als ein internationales Publikum, das sie beim ersten Roman vor Augen hatte. Im Jahr 1914. Während die Männer in Europa an die Front des Ersten Weltkriegs ziehen, kehrt Lina Bögli in ihre Heimat zurück. In Herzogenbuchsee quartiert sie sich im Gasthof Kreuz ein, dem ersten alkoholfreien Gasthaus der Schweiz Im linken Flügel des Gebäudes bewohnt sie ein Zimmer im zweiten Stock. Von hier aus besucht Lina Bögli regelmässig ihre Verwandten. Zum Beispiel die Bögli Sindspiech, die Vorfahren von Margret Nyffeler. Bögli und ihrem Vater Heiri. Das ist eben der Moment, in dem jeweils der Rasen vor dem Haus gemäht werden musste. Wir erinnern uns. Und zu diesem Haus an den Wohnzimmertisch der Bögli sind Spiez. Kehren wir nun wieder zurück. Ihr Leben lang habe ihre Urururgroßtante akribisch Tagebuch geführt, erzählt Margret Nyffeler. Bögli. Und diese Bücher, die gibt es noch.

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Margret Nyfeler-Bögli:
Es ist ein kleines Wunder, dass die nicht irgendwo vernichtet sind.
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Leonie Marti:
Hier in Spich lagen Linas Tagebücher lange Zeit in der Eckbank, auf der wir jetzt sitzen. Mittlerweile seien sie an einem etwas sichereren Ort, sagt Margret Nyffeler. Bögli und nimmt mich mit.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Dem Stock in den ersten Stock. Gut, wenn das ein Archiv schafft. Das gut gelagert sein. Und da sind die verschiedenen Bücher möglich. Ich gehe davon aus, dass es da noch zwei, 93 bis 8, 98.
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Leonie Marti:
Und das ist wirklich die Schrift von der Lina Bögli.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Das ist die Schrift von Lina Bögli.
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Leonie Marti:
Diese Bücher ihrer Urururgroßtante seien etwas ganz Besonderes für sie, erklärt mir Margret Nyffeler. Bögli. Als wir wiederum am Wohnzimmertisch sitzen, die Tagebücher vor uns aufgeschlagen.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Also das ist einfach sehr schön. Also fast ehrfürchtig. Ja, ein Stück ähnlich mich verbunden mit der mit der Lina eben. Dass man ihre Gedanken aufnimmt.
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Leonie Marti:
Es sind Gedanken aus einer anderen Zeit. Gedanken die aus heutiger Sicht auch irritieren können. So beschreibt Lina Bögli im Buch «Vorwärts» einen Restaurantbesuch in Washington. Sie könne sich nicht an die schwarzen Dienstboten gewöhnen, Sobald ihr eine schwarze Hand den Teller reiche, sei es um ihren Appetit geschehen, schreibt sie. Was machen solche Zeilen mit ihrer Urgroßnichte heute?
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Margret Nyfeler-Bögli:
Also lernen wir zu schlucken. Meine Tochter hat es auch nicht. Es geht gar nicht. Was mir aber gut tut Sie ist die schwarze Hand. Gruß. Aber sie sagt nicht das ist irgendwie auch ein Schwarzer. Sie wieder so und so, also sie hat ihre Vorurteile, aber sie tut sich ja mit den Menschen dahinter.
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Leonie Marti:
Dank der Tagebücher ist auch bekannt, was für ein Leben Lina Bögli in Herzogenbuchsee geführt hat nach ihren großen Reisen. Sie erteilt weiterhin Sprachunterricht und sie hält Reisevorträge in der ganzen Schweiz.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Vorträge 1915 1916. Im September ist sie in Kirchberg. Gesehen hat sie Japan, aber auch Japan ist da schon Trainer in St. Gallen, Zürich, Herisau. Dann wieder ein Buch. Sie. Also da ist sie wirklich recht streng, dass sie schon 12345677 Vorträge im Februar und im März ist noch mehr.
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Leonie Marti:
Auch Schweizer Zeitungen berichten über die Vorträge. Die Rezensionen kommentiert Alina jeweils in ihren Tagebüchern.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Meistens ist sie gut weggekommen, aber es ist wirklich sehr spannend. Aber jetzt gibt es noch ein geschichtlich lustiges Ist wirklich, hat sie einmal geschrieben, sie habe im Bund einen Zeitungsartikel, wo sie kritisiert worden.
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Leonie Marti:
Und zwar ging es um ihre Aussagen im Zusammenhang mit den Mormonen in den USA. Wir erinnern uns Lina Bögli kam zum Schluss, dass ihr Leben in Salt Lake City gar nicht so schlimm sei.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Und das hat ihr nachher angekreidet. Wird also von der Synode. Das Parlament habe ich nachher geschrieben, sagt Lina Bögli, das Leben der Mormonen verherrlicht. Dabei ist sie durchaus kritisch. Sehen Sie nicht, dass einfach die Sekten zulauf und damals sehr kritisiert wurde?
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Leonie Marti:
Lina Bögli ist eine gefragte Rednerin und auch als Auskunftsperson wird sie geschätzt.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Viele Leute haben sie wirklich gesucht, weil sie so bekannt ist. Sie oder sie könnte manchmal schon von den Reisen oder von Vorträgen und sie hat das einfach ausgefüllt. Also die, wenn Sie können sie Auskunft geben oder es ist auch viel um Rat gefragt worden, aber vor Vorfamilie, wo vielleicht auswandern oder so?
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Leonie Marti:
Lina Bögli gibt Rat, engagiert sich für die Gesellschaft, etwa indem sie gewisse Schülerinnen und Schüler kostenlos unterrichtet. Ihr Engagement kennt aber auch Grenzen. Eine Mitgliedschaft im Komitee, das sich für das Frauenstimmrecht in der Schweiz einsetzt, lehnt sie ab.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Ich glaube schon, dass Politik einfach nicht so interessiert hat. Also das mit dem Frauenstimmrecht, dass ich angefragt wurde und sie hat ja schon Generalstreiks erlebt, da schreibt sie drüber und Sozialisten gelobt und angefragt, ob sie nicht mitmachen und da hat sie sich einfach nicht. Position ergreifen Aus.
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Leonie Marti:
Der Sicht von Lina Bögli sei die Antwort auf Ungleichbehandlung nicht Politik gewesen, sondern Bildung, sagt ihre Urgroßnichte Margret Nivel. Bögli, die in ihrer reisefreudigen Vorfahrin auch heute noch ein Vorbild sieht.
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Margret Nyfeler-Bögli:
Sie jammert nicht um eine Frau, sie macht einfach. Und das ist für mich schon noch heutzutage, dass ich nicht träume. Und wegen diesem und diesem und das geht jetzt nicht und ich denke aber dort ist sie wirklich noch ein Vorbild und und das lassen sicher auch viele Serien außer.
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Leonie Marti:
Lina Bögli bleibt ihrer Heimat treu. Bis zu ihrem Lebensende bewohnt sie ein Zimmer im Gasthof Kreuz in Herzogenbuchsee. Die Schweiz verlässt sie nicht mehr. Ihre letzte Reise tritt sie am 22. Dezember 1941 an, An diesem Wintertag, kurz vor Weihnachten, stirbt Lina Bögli im Alter von 83 Jahren. Heiri Bögli, Linas Urgroßneffe und Vater von Margret Nyffeler Bögli, der mit uns im Stöckli in Spaich im Wohnzimmer sitzt, erinnert sich Näfels.
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Heinrich «Heiri» Bögli:
Und weisst du was? Der bärtige Toni Fachhochschul Grenchen zog. Der Tross mit hohem Ross und Lieferwagen. Ja, ja, ja. Ich denke aber auch.
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Leonie Marti:
Heiri Bürkli war damals drei Jahre alt. Der Leichenzug seiner Urgross tante Lina Bögli ist eine seiner frühesten Kindheitserinnerungen. Lina Bögli hatte für alles vorgesorgt. Ihr Leichenmahl ist bezahlt. Ihren Grabstein hatte sie schon Jahre vor ihrem Tod in Auftrag gegeben. Heute ruht der Grabstein auf dem Friedhof Oschwand, gleich beim Eingang. Hier schaue ich nach dem Besuch im Stöckli in Spiez vorbei. Lina Bögli steht da. 1858 bis 1941. Darüber eingraviert ist eine Erdkugel und eine Taube mit weit ausgebreiteten Flügeln. Und fast hätte ich es übersehen, wenn ich das Efeu am oberen Rand des Grabsteins zur Seite schiebe, kommen zwei Worte zum Vorschein. Vorwärts! Aufwärts!
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Das war die Zeitblende über das außergewöhnliche Leben von Lina Bögli, der ersten Schweizer Reiseschriftstellerin. Mein Name: Leonie Marti. Schön, waren Sie bei dieser Reise mit dabei? Falls Sie Feedback oder Fragen haben, schicken Sie doch ein Mail an zeitblende@srf.ch. Die Zeitblende, das ist der historische Podcast, der Geschichte zum Leben erweckt. Alle Folgen, darunter auch weitere außergewöhnliche Frauenbiografien, finden Sie unter srf.ch/zeitblende.

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