«Fukushima spielt ausserhalb der Region schon lange keine Rolle mehr. Daran denkt man nicht. Davon redet man nicht», sagt Christoph Neidhart, ehemaliger Korrespondent für den «Tages-Anzeiger» und die «Süddeutsche Zeitung». In Japan sei die Aufmerksamkeit derzeit bei Corona und den bevorstehenden Olympischen Spielen, von denen die Regierung sagt, sie seien durchführbar und sicher.
Also alles in Ordnung?
«Da ist für viele offensichtlich nicht alles in Ordnung», sagt Aya Domenig, schweizerisch-japanische Regisseurin, die gerade ihren Dokumentarfilm «Stille über Fukushima» fertiggestellt hat. Viele Menschen in Japan seien auch zehn Jahre nach der Katastrophe besorgt, wie sich die Strahlung auswirke. Noch immer könnten nicht alle, die damals evakuiert wurden, zurück, sagt sie.
Fukushima, die dreifache Katastrophe
Über die Atomkatastrophe am 11. März 2011 sagt Christoph Neidhart: «Das Leid der lokalen Bevölkerung war immens. Man muss immer berücksichtigen: Diese Katastrophe war eine dreifache Katastrophe. Erst das Erdbeben, dann der Tsunami, dann die Nuklearkatastrophe. Der Tsunami allein hat ungefähr 16’000 Tote gefordert.»
Solange man nichts sieht, ist alles in Ordnung
Neidhart ahnte damals, «dass in diesem Kraftwerk Kernschmelzen stattfanden» – etwas, das offiziell lange bestritten wurde. Bei einer der Pressekonferenzen zehn Tage später fragte er in einem unbeobachteten Moment abseits des Podiums einen Experten, ob Kernschmelzen stattfänden. Dieser sagte nichts, nickte aber. «Er hat es mir – eins zu eins – mit einem Nicken bestätigt. Aber auf der Bühne der täglichen Pressekonferenz sagte er, man wisse es nicht. Das ist Japan.»
Diesem Mechanismus sei er vielfach begegnet: «In Japan muss man immer unterscheiden zwischen dem Gesicht, das man zeigt, und dem Inneren. Solange man nichts zeigt oder nichts sieht, gilt: Alles ist in Ordnung.»
Die Regierung liess ein Szenario ausarbeiten, ab wann und wie Tokio evakuiert werden müsste. Das Szenario war geheim, es umfasste zwölf Seiten. Neidhart sagt, er sei der erste ausländische Journalist gewesen, dem es zugespielt wurde. Das Szenario war durchnummeriert – die Seite mit den Landkarten fehlte. «Wenn die jemand im Fernsehen hochgehalten hätte, wäre Panik ausgebrochen. Offiziell war da nichts, inoffiziell liess man Katastrophenszenarien durchspielen.»
Das offizielle Gesicht sagte, da sei nichts, inoffiziell rechnete die Regierung mit dem Schlimmsten. Damit, so Aya Domenig, nahm «das heutige Misstrauen vieler Menschen seinen Anfang». Zumal die Atomindustrie staatlich gefördert wurde und wird. Konnte man veröffentlichten Messergebnissen überhaupt trauen? Der Schock dieser hochtechnologischen Nation sass tief.
Für ihren jüngsten Film hat die Regisseurin verschiedene Kulturschaffende porträtiert, die sich seit der Atomkatastrophe für die Opfer von Fukushima einsetzen. Die Protagonisten zeigen auf, dass viele der Opfer auch zehn Jahre nach der Katastrophe als Flüchtlinge im eigenen Land leben, zwischen Hoffen und Bangen.
Der Fotograf Jun Nakasuji – das visuelle Gedächtnis
Einer, den Domenig in ihrer Dokumentation zeigt, ist Jun Nakasuji. Der Fotograf dokumentiert seit 2011, wie sich Fukushima seither verändert.
Nakasujis Bilder zeigen Aufnahmen menschenleerer Orte, einst bewohnt, dann Hals über Kopf verlassen. Leere Restaurants, Klassenzimmer, Kinderzimmer, offene Fenster, durch die der Wind weht. Seit zehn Jahren.
Nakasuji fotografiert diese Zone, 20 Kilometer rund um Fukushima, die von radioaktivem Niederschlag kontaminiert wurde.
Nakasuji sagt im Film, das Surreale in diesen Städten ohne Menschen sei die Stille. Besonders bei Nacht. Da kämen wilde Tiere. Man werde selbst zu einem.
Erinnerungsfotos einer Katastrophe
Nakasuji mache Langzeitbeobachtungen, erzählt Domenig: «Er dokumentiert, wie alles zum Verschwinden gebracht, abgerissen und neu betoniert wird. Erinnerungen werden so immer mehr ausgelöscht.»
Nakasuji macht buchstäblich Erinnerungsfotos. Auf ihnen sieht man die Konsequenzen der Nuklearkatastrophe, die Katastrophe selbst sieht man nicht.
Berge von schwarzen Abfallsäcken
Nakasuji dokumentiert auch das Dekontaminierungsprogramm. «Den verseuchten Landstrich, eine Fläche von der Grösse des Kantons Zürich, dekontaminieren zu wollen, indem man die obersten 50 Zentimeter Erde abträgt und in schwarze Säcke packt, hat zur Folge: Die Reisfelder sind alle weg. Das ist jetzt Brachland», sagt Christoph Neidhart.
Die Präfektur Fukushima ist eine bergige Gegend. Die Berge wurden aber nicht dekontaminiert. Die Folge: «Der nächste Regen schwemmt von weiter oben radioaktives Material herunter.» Wenn man nach dem Regen misst, bekomme man andere Werte als vor dem Regen. «Das erklärt gewisse Messdiskrepanzen», sagt Neidhart.
Misstrauen in Messwerte
Kurz nach der Reaktorkatastrophe erhöhte die Regierung den zulässigen Strahlenwert, dem ein Mensch über ein Jahr ausgesetzt sein darf, von einem Millisievert auf 20 Millisievert. Die galten ursprünglich als zumutbar für Arbeiter in einem japanischen Atomkraftwerk, die dieser Strahlung vorübergehend ausgesetzt sind. Seit 2011 gilt der Wert für die Bevölkerung rund um die Uhr.
Zur gleichen Zeit veröffentlichten staatliche Stellen Messwerte. Aber es gab viele, die diesen Ergebnissen misstrauten. «Es wurden keine Proben am Boden genommen und analysiert, was sehr aufwendig gewesen wäre, sondern sie haben zuerst aus den Luftwerten die Erdwerte hochgerechnet», sagt Aya Domenig. «Das verunsicherte.»
Kiyumi Oyama und die volle Datentransparenz
Eine weitere Protagonistin in Domenigs Film: Kiyumi Oyama von der Bürgerinitiative «Minna-no Data Site», was übersetzt in etwa heisst: «Jedermanns Datenseite». Oayama hatte bei der Katastrophe von Tschernobyl Erfahrungen gesammelt. Nach Fukushima hätten sie viele gefragt, inwiefern man sich auf amtlich veröffentlichte Messergebnisse verlassen könne. Besonders für junge Mütter sei es eine Gewissensfrage gewesen: Wie schütze ich mein Kind?
Die Frage nach Sicherheit war existenziell für viele. «Vereinzelt begannen Bürger, selber zu messen und zu analysieren. Aber die waren nicht vernetzt. Man konnte nicht nachschauen, wie die Werte in anderen Städten sind», sagt Domenig.
Hilfe zur Selbsthilfe
Zusammen mit Gleichgesinnten hatte Oyama die Idee, diese kleinen Initiativen zusammenzuführen. Sie gründeten die Bürgerinitiative «Minna no Data Site»: «Da ergab sich ein anderes Problem: Wenn man unterschiedlichen Messmethoden hat, hat man keine Vergleichsbasis. Oyama und ihr Team haben sie vereinheitlicht, damit man die Werte vergleichen kann.» Zwei Jahre später lancierten sie das «East Japan Becquerel Measurement Project».
Die Ergebnisse wurden auf eine Landkarte übertragen, «sodass jeder sehen kann, in welcher Region welche Strahlenbelastung am Boden besteht. Es wurde ein grosser Erfolg», sagt Domenig.
Willkürlicher Grenzwert
Dass die Regierung den Grenzwert der zulässigen Strahlung heraufsetzte, hatte weitreichende Konsequenzen für die Evakuierung und eine Entschädigung. Insgesamt haben 160'000 Menschen ihre Heimat verlassen – Entschädigungen gab es aber nur, wenn der Grenzwert überschritten wurde. Wer aus Angst bei 19 Millisievert ging, bekam nichts.
Das mache viele bis heute wütend, sagt Domenig, denn die 20 Millisievert seien willkürlich gesetzt. Niemand wisse, wie sich diese Langzeitstrahlung auswirke. Dies sei einer der Gründe, weshalb 40'000 Evakuierte bis heute nicht nach Fukushima zurückgekehrt sind.
Was sagt man den Kindern?
Viele der Menschen, die damals ihre Heimat verlassen mussten, leben seit zehn Jahren immer noch woanders. Wenn man ihnen jetzt anbietet, zurückzukehren, weil ihr Gebiet dekontaminiert ist, dann sei das besonders für Familien schwierig.
Wie sagt man Kindern, die bereits einmal ihre gewohnte Umgebung verlassen mussten, dass es jetzt wieder zurückgeht? Und dass man nicht sicher sei, wie ungefährlich das ist?
Strahlenschäden sind schwer zu beweisen
Am Anfang sei das Gebiet um den Reaktor abgesperrt worden, besonders Seitenstrassen wurden von Polizisten in Schutzkleidung bewacht, sagt Neidhart. Auf den Absperrzäunen hätten Warnschilder gehangen.
«Einem meiner Kollegen musste man die Schilddrüse entnehmen. Er fuhr in den ersten Tagen nach der Katastrophe mit dem Motorrad in der Gegend um Fukushima herum – zwei Jahre später musste man operieren», sagt Christoph Neidhart. Das sei aber noch kein Beweis, «denn bei Nuklearopfern ist medizinisch schwer festzustellen, was die Ursache zum Beispiel für Schilddrüsenkrebs ist».
Masao Yoshida, der Chef des Kraftwerks, ist knapp zwei Jahre nach der Katastrophe an Leukämie gestorben. «Medizinisch gesehen war diese Leukämie zu früh, um von der Radioaktivität verursacht worden zu sein.» Auch das: kein Beweis. Die Betreiberfirma Tepco bestreitet einen Zusammenhang.
Die Oshidoris vergessen nicht
Ken und Mako Oshidori sind Schauspieler, eigentlich. Nach dem Atomunfall hätten sie gemerkt, es stimme etwas nicht mit der Berichterstattung. «Sie haben diese Tepco-Pressekonferenzen am Fernsehen verfolgt und bemerkt, dass man kritischen Journalisten selten das Wort gab», sagt Regisseurin Domenig. «Dann beschlossen sie, selbst hinzugehen».
Diese Pressekonferenzen finden jede Woche zweimal statt, bis heute. «Die Oshidoris sind über 700 Mal dagewesen. Zeitweise sind sie die einzigen. Sie sind berühmt dafür, es ist ihr Markenzeichen.»
Der Regierung und der Betreibergesellschaft sei es ganz recht, wenn Fukushima in Vergessenheit geriete, sagt Domenig. «Genau das treibt die Oshidoris an.»
Bis 2019 waren sie bei einer grossen Künstleragentur unter Vertrag, die sie unter Druck gesetzt habe: «Man sagte den beiden, sie würden keine Aufträge kriegen, solange sie über Fukushima recherchieren würden. Das ist das Schicksal von vielen Kulturschaffenden in Japan. Wenn sie sich politisch engagieren, endet ihre Karriere. Auch heute noch hüten sich die Oshidoris davor, auf der Bühne etwas Politisches zu sagen, ausser jemand aus dem Publikum fragt sie. Dann können sie antworten.»
Ihre künstlerische Tätigkeit ist reduziert. Hauptberuflich sind sie mittlerweile im Journalismus tätig «und gehören zu den am besten informierten Menschen in Japan. Sie beraten auch Politiker. Sie versuchen, die Leute aufzuklären. Immer noch», erklärt Domenig.
Viele sind empört
Zum Phänomen, dass die Leute schnell vergessen wollen, sagt Domenig: «Die ganze mediale Aufmerksamkeit ist weg. Die Leute in Tokyo leben wie eh und je, man kann gut verdrängen. Jetzt kommen auch noch die Olympischen Spiele.»
Der Fackellauf mit dem olympischen Feuer begann dort, wo das Hauptquartier der Tepco war und führte mitten durch kontaminiertes Gebiet in Fukushima. «Alles mit grosser Symbolkraft, um zu zeigen: Fukushima hat sich verändert», sagt Neidhart. Domenig sagt, die Symbolpolitik anlässlich Olympia habe viele empört, die betroffen sind.
Das Ende von Domenigs Film zeigt ein Fukushima, in dem wenig von der Katastrophe zu sehen ist. Die Erinnerungen an sie sind fast wegbetoniert. Nur auf der Tonspur kratzt ein Geigerzähler.