Wer bei Buddhismus an stilles Meditieren im Schneidersitz denkt, wird im vietnamesischen Tempel Viên Minh in Nebikon im Kanton Luzern enttäuscht. Zumindest an diesem Tag im Juni: Kinder springen umher, die Erwachsenen treffen letzte Vorbereitungen für ein grosses Essen.
Die buddhistische Gemeinschaft feiert Vesak, einen der höchsten buddhistischen Feiertage: «Da feiern wir Buddhas Geburt. Das ist wie Weihnachten», erklärt Jenny Truong. Sie arbeitet ehrenamtlich für den Tempel.
Der Tempel als Ort der Zusammenkunft
Für die Vesak-Zeremonie sind Buddhistinnen und Buddhisten aus der ganzen Schweiz angereist. Das sei typisch, weiss Martin Baumann von der Universität Luzern. Der Religionswissenschaftler erforscht seit Jahren den Buddhismus im Westen und sagt: «Bei migrantischen Gemeinschaften spielt der Tempel oft eine wichtige Rolle – sei es für grosse Feste wie Vesak oder wenn die Ahnen verehrt werden.»
Der wichtigste Raum im Tempel ist der Gebetsraum. Hier steht ein grosser, sitzender Buddha. Die goldene Statue ist etwa zwei Meter hoch, ein Podest lässt sie noch grösser erscheinen. «Buddha muss immer höher sitzen als wir», erklärt David Luu, der Bruder von Jenny Truong.
Ein Restaurant wird zum Tempel
Damit die Statue Platz hat, musste die Decke im Gebetsraum stellenweise erhöht werden. Das Gebäude war ein Restaurant, bevor es 2017 in den Besitz der vietnamesisch-buddhistischen Gemeinschaft überging. Während der letzten vier Jahre wurde es zum Tempel umgebaut.
Nebst dem Gebetsraum gibt es eine grosszügige Küche, einen Essraum, einfache Gästezimmer und eine Bibliothek. Unter dem Dach wohnt der Abt des Tempels, Meister Thich Nhu Tu.
Nun sitzt der Abt im Gebetsraum vor dem grossen Buddha. Neben ihm haben zwei weitere Mönche Platz genommen. Es sind Ehrengäste aus dem umliegenden Ausland, die zur Vesak-Feier angereist sind.
Auf der anderen Seite von Thich Nhu Tu steht eine weitere, etwa 50 Zentimeter grosse Buddha-Statue. Der Sakya-Mo-Ni-Buddha hat einen kindlichen Gesichtsausdruck und zeigt mit dem rechten Zeigefinger in den Himmel. Er steht im Zentrum von Vesak.
Nördlicher Buddhismus in der Zentralschweiz
Die Gemeinschaft, die in Nebikon Vesak feiert, gehört zum sogenannten nördlichen oder Mahayana-Buddhismus. Hier gelten Bodhisattvas als Ideal – erleuchtete Wesen, die vom Kreislauf der Wiedergeburt befreit sind. Dennoch kommen sie in die Welt zurück, um anderen Lebewesen auf dem Weg zur Erleuchtung zu helfen.
Die Ankunft der Boat-People
Seit 1989 besteht die vietnamesisch-buddhistische Gemeinschaft in der Schweiz als Verein. Heute zählt er gemäss eigenen Angaben etwa 6000 Mitglieder. Es sind Menschen der ersten, zweiten oder dritten Generation von sogenannten Boat-People: Nachdem das kommunistische Nordvietnam über den Süden siegte und der Vietnamkrieg 1975 zu Ende war, flüchteten mehr als 1,5 Millionen Menschen aus Südvietnam. Sie versuchten über das Südchinesische Meer ins Ausland zu kommen. Viele kamen dabei um.
Zwischen 1975 und 1983 nahm die Schweiz rund 8200 Boat-People aus Indochina auf, mehrheitlich aus Vietnam. Die sogenannten Kontingentflüchtlinge wurden insbesondere auf Gebiete um Bern, Lausanne und Luzern verteilt.
Die erste vietnamesisch-buddhistische Nonne kam 1980 in die Schweiz, der erste und lange Zeit einzige Mönch sechs Jahre später. Sie verstärkten das Engagement der Laienbuddhistinnen und -buddhisten, eine eigene religiöse Infrastruktur aufzubauen. Nach Provisorien, etwa in Mietwohnungen, entstand 1992 in Ecublens bei Lausanne die erste von drei Pagoden.
Heute gibt es neben den Tempeln in Nebikon und Ecublens noch einen weiteren in Zollikofen bei Bern. Der Tempel in Ecublens wird von einer Nonne geleitet, die anderen beiden von je einem Mönch. Sie führen täglich eine Morgen- und Abendandacht durch sowie monatliche Anlässe etwa zu Vollmond oder mehrtägige Kurse. An hohen Feiertagen wie Vesak feiern die drei Tempel oft gemeinsam.
Der Buddha wird gebadet
Im Tempel in Nebikon eröffnen ein gutes Dutzend Laien, drei Mönche, zwei Nonnen und ein Novize mit kurzen Reden und Gebeten die Vesak-Zeremonie. Dann wird der Sakya-Mo-Ni-Buddha von drei Männern ins Freie getragen. Zwei Fahnenträger gehen voraus, die Mönche und Nonnen folgen, sie rezitieren Gebete.
Auf dem Vorplatz des Tempels warten etwa 150 Menschen auf die Prozession. In einem grossen Festzelt platzieren die Träger den Sakya-Mo-Ni-Buddha in einer Wasserschale. Nun beginnt die rituelle Waschung des Buddhas: Die Buddhistinnen und Buddhisten verneigen sich vor der Statue, schöpfen nacheinander mit einer kleine Kelle Wasser aus der Schale und übergiessen den Buddha – zuerst die linke Schulter, dann die rechte, schliesslich die Füsse.
Jenny Truong erklärt das Ritual: «Zuerst sind wir aufgefordert, über das Böse nachzudenken und darüber, wie es vermieden werden kann.» Bei der rechten Schulter gehe es um das Gute und wie es allen Lebewesen zuteilwerden könne. Wenn das Wasser schliesslich über die Füsse des Buddhas gegossen wird, solle über das eigene Gelübde nachgedacht werden, alle Wesen zu retten.
Vielfältiger Buddhismus
Nebst der vietnamesischen Gemeinschaft gibt es in der Schweiz viele andere buddhistische Gruppen und Zentren. Religionswissenschaftler Martin Baumann und sein Team zählen in einer aktuellen Studie knapp 160 Gemeinschaften. Sie haben mindestens je fünf Mitglieder und treffen sich regelmässig.
Gemäss Bundesamt für Statistik bezeichnen sich in der Schweiz gerade mal 0,5 Prozent der Menschen als Buddhistin oder Buddhist. In der Studie des Religionswissenschaftlers geben jedoch sechsmal so viele Menschen an, sich dem Buddhismus zugehörig zu fühlen. Das entspricht einer Viertelmillion Menschen. Mache sind in den Buddhismus hineingeboren, andere konvertiert.
Meditation als Aushängeschild
Was macht den Buddhismus so attraktiv, dass sich ihm viele zugehörig fühlen oder gar konvertieren? Martin Baumann: «Es ist sicher der positive Nimbus. Der Buddhismus hat eine lange und historisch gewachsene Tradition. Gleichwohl wird er oft modern verpackt.»
Der Religionswissenschaftler verweist auf Websites von Gemeinschaften, die von Konvertitinnen und Konvertiten gegründet wurden. Sie werben etwa mit Bildern einer meditierenden Frau, die inmitten einer schönen Landschaft sitzt. «Bei vielen Gruppen und Zentren ist Meditation das Aushängeschild», erklärt Baumann, «Meditation quasi als Entspannung und Entrückung aus der hektischen, fordernden Welt.»
Positive Vorurteile
Zudem sei Buddhismus mit vielen positiven Vorurteilen besetzt. Etwa, dass der Buddhismus nicht missionierend sei. Martin Baumann von der Universität Luzern relativiert allerdings: «Der Buddhismus hat sich im ersten Jahrtausend seiner Entstehung in fast allen asiatischen Ländern verbreitet.»
Mit dem Verbreitungsgedanken, der auch in den Schriften von Buddha angelegt sei, gäbe es durchaus etwas Missionarisches. Gleichwohl werde selten jemandem der Glaube oder ein Bekenntnis aufgedrängt.
Ein anderes Vorurteil betrifft die angebliche Friedfertigkeit des Buddhismus. Zwar seien im Namen des Buddhismus noch keine Kriege geführt worden, doch kam es beispielsweise Ende des 19. Jahrhunderts in Japan zu Gewalttaten von buddhistischen Mönchen, als der Zen-Buddhismus unter Druck der damaligen Monarchie gelangte. «Diese Ereignisse sind bislang kaum aufgearbeitet», weiss Buddhismus-Kenner Baumann.
Auch heute gibt es buddhistische Gruppen, die nicht vor Gewalt zurückschrecken. Etwa, wenn sie die muslimische Minderheit der Rohingya in Burma diskriminieren und verfolgen.
«Nachttisch-Buddhisten»
Trotz dieser positiven Vorurteile konvertieren nicht alle, die im Westen mit dem Buddhismus sympathisieren. Viele setzten sich eher intellektuell und philosophisch mit ihm auseinander. Rituale oder die buddhistische Gemeinschaft spielen dann keine Rolle.
Der US-amerikanische Religionshistoriker Thomas Tweed fasst dieses Phänomen unter dem Schlagwort «nightstand buddhist», den «Nachttisch-Buddhisten», zusammen. Damit gemeint ist, dass man auf dem Nachttisch viele Bücher liegen hat und sich vor dem Schlafengehen mit buddhistischen Meisterinnen, dem Dalai Lama oder der buddhistischen Ethik auseinandersetzt.
Zufluchtnahme und nicht anhaften
Streng genommen seien Nachttisch-Buddhisten noch keine Buddhistinnen und Buddhisten, betont Martin Baumann: «Dazu braucht es dann schon eine bestimmte Einstellung.»
Diese Einstellung ist im Buddhismus mit der Zufluchtnahme ritualisiert. Bei diesem Ritual bekennt man sich zum Buddhismus und vertraut auf die sogenannten drei Juwelen: den Buddha, seine Lehre (Dharma) und die Gemeinschaft (Sanga).
Die Zuflucht kann für sich selbst oder in einer Gemeinschaft gesprochen werden. Man nimmt einen religiösen Namen an. Hinzu kommen eine gewisse Selbstverantwortung und Selbstverpflichtung, ethisch zu handeln: «Beispielsweise nicht zu stehlen oder zu lügen, freigiebig zu sein und nicht am Materiellen anzuhaften», erklärt Religionswissenschaftler Baumann. Das alles habe zum Ziel, das Leid der Welt zu erkennen und vom Geburtenkreislauf erlöst zu werden.
Buddhismus als Lebensorientierung
Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der buddhistischen Lehre oder der Gemeinschaft findet hierzulande vor allem in ländlich gelegenen Retreat-Zentren statt: In Amden oberhalb des Walensees gibt es eines in der Tradition des sogenannten Diamantwegs rund um Lama Ole Nydal. Im Berner Oberland, im buddhistischen Zentrum Beatenberg, treffen sich Lehrerinnen und Lehrern aus Europa und den USA. Im Wallis können sich Praktizierende der Kadampa-Gemeinschaft zurückziehen.
«Diese Vertiefungen sind für erfahrene Schülerinnen und Schüler, für die Buddhismus eine Lebensorientierung ist», sagt Martin Baumann. Retreats dauern oft mehrere Tage oder Wochen.
Im Alltag treffen sich konvertierte Buddhistinnen und Buddhisten auch in urbanen Meditationsgruppen, etwa in Genf, Bern oder Basel. Da liegt das Angebot quasi vor der Haustüre und man trifft sich zum Meditieren vor oder nach der Arbeit.
In Europa sind buddhistische Rituale einigen «zu katholisch»
Während es für Konvertitinnen und Konvertiten oft um Mediation und Vertiefung geht, spielen für migrantisch geprägte Gemeinschaften eher Rituale und die damit verbundene Kultur eine Rolle.
In der vietnamesischen Pagode in Nebikon gibt es etwa einen Altar, bei dem Ahnen verehrt werden: Auf einem Tablet werden die Fotos der Verstorbenen gezeigt. Über einen Lautsprecher werden Gebete abgespielt.
Wenn jemand verstorben ist, kommt die Asche für 49 Tage in den Tempel. In dieser Zeit rezitiert der Abt spezielle Gebete, um dem oder der Verstorbenen eine gute Wiedergeburt zu ermöglichen. Dann wird die Asche bestattet, in der Schweiz oder in Vietnam.
«Europäische Buddhistinnen und Buddhisten können mit solchen Ritualen nicht so viel anfangen. Das ist ihnen vielleicht zu ‹katholisch›», sagt Religionswissenschaftler Martin Baumann.
Wo bleibt der Nachwuchs?
Auch andere Übergangsrituale wie Hochzeiten werden im Tempel gefeiert. Dabei ginge es immer auch um Kulturvermittlung, sagt Thich Hahn Tan. Der Mönch lebt seit 1979 in Deutschland und ist für die Vesak-Feier als Ehrengast nach Nebikon gekommen.
Er sagt: «Bei den Jugendlichen kann es zu Konflikten kommen, weil sie nach aussen hin vietnamesisch aussehen. Aber sie sind hier in Europa geboren und fühlen sich als Deutsche oder Schweizerinnen. Da möchten wir vermitteln.»
An der Vesak-Zeremonie treten auch Kinder- und Jugendgruppen auf. Sie singen und tanzen. Es sind religiöse ebenso wie kulturelle Momente. Jenny Truong hat selbst zwei erwachsene Kinder: «Sie kommen nicht so oft in den Tempel», sagt sie.
«Einerseits, weil sie die Sprache nicht so gut verstehen. Andererseits ist es meiner Tochter oft zu laut und zu wild im Tempel. Kinder von hier sind sich das bunte Treiben nicht so gewohnt», ergänzt Jenny Truong lachend.