Der Auftakt an den Bayreuther Festspielen ist ungewöhnlich: In der Inszenierung von Wagners «Tannhäuser» gibt es keinen Sex. Sonst räkeln sich die Nackten oder Halb-Verhüllten direkt zu Beginn auf der Bühne.
Tannhäuser, der Clown
Vermisst werden die nackten Figuren nicht, ihre Extravaganz reicht aus. Auf der Bühne steht eine Drag-Queen mit afrikanischen Wurzeln oder ein Kleinwüchsiger in Kinderkleidung. Er ist ein Verweis auf Oscar aus Günther Grass' Roman «Die Blechtrommel».
Eine bildhübsche Venus im Hollywood-Style steuert einen alten Bus und imponiet mit Pussy-Riot-Posen. Mit ihr unterwegs ist Tannhäuser im Clowns-Kostüm.
Diese bunte Truppe reist mit ihrem Bus frei durch die Welt, feiern alles Sinnliche und nehmen sich, was sie wollen. Darüber gerät Tannhäuser in Verdruss. Er will zu den echten Menschen und vor allem zu seiner Elisabeth
Sie führt auf der Wartburg ein keusches Leben und betet für ihn. Gleichzeitig ritzt Elisabeth aus Liebeskummer die Arme, denn sie glaubt Tannhäuser verloren.
Die Welt schwankt hin und her
Bei Wagner ist der Konflikt zwischen der sexuellen Begierde und der geistigen, der «echten» Liebe zentral. In der Inszenierung von Tobias Kratzer hingegen geht es um den Wettstreit ganzer Lebenskonzepte.
Hier das konservative, sittenstrenge Leben der Elisabeth, dort die totale Freiheit und Anarchie in der Welt der Venus. Die Figur des Tannhäuser wankt zwischen den zwei Polen hin- und her, wie unsere westlichen Gesellschaften mit ihren divergierenden politischen Lagern.
Damit hat Regisseur Tobias Kratzer einen Nerv der Zeit getroffen. Die Unfähigkeit Tannhäusers, sich für ein Lebensmodell zu entscheiden, ist ein aktuelles Phänomen. Am Ende hat Tannhäuser weder das eine, noch das andere.
Seine Elisabeth liegt im Sterben, nachdem sie sich voller Verzweiflung Tannhäusers Nebenbuhler Wolfram hingegeben hat. Es ist die einzige Sexszene, mit der im Bayreuther Publikum niemand mehr gerechnet hat.
Neu erfundener Wagner
Der aufstrebende Nachwuchs-Regisseur Tobias Kratzer sorgt für Überraschungen. Er ergänzt das Stück mit einer rasanten Verfolgungsjagd und witzigen Anspielungen auf das Festspiel-Gehabe.
Meisterhaft sind die intimen Video-Einspieler. Auf der Bühne bewahren die Figuren Haltung. Ihre «echten» Gefühle werden zeitgleich in Grossaufnahme über der Bühne projiziert.
All das ist von Manuel Braun zur Partitur dazu komponiert und von Rainer Sellmaier in die bunte Bühne integriert.
Sie klatschten und pfiffen
Musikalisch zeigt diese Bayreuther Festspieleröffnung Entdeckungen und Enttäuschungen gleichermassen: Aus dem gewohnt exzellenten Ensemble sticht Debütantin Lise Davidsen heraus. Sie singt die Elisabeth mit all ihrer Zerrissenheit auf den Punkt.
Ebenfalls Debütant war Dirigent Valery Gergiev. Ihm fehlte es aber an Einarbeitung in die besonderen akustischen Begebenheiten des gedeckten Bayreuther Orchestergrabens.
Unter ihm blitzte die Farbigkeit und Agilität des Festspielorchesters nur selten auf. Häufig klang es unentschieden und nicht zusammen mit dem Bühnenensemble.
Das Publikum zog sein eigenes Fazit: Buhs für Gergiev, tosender Applaus für das Gesangsensemble – und beides für das Regieteam.