- Marc Dutroux hat Kinder entführt, missbraucht, und ermordet. In Belgien kennt jeder seinen Namen.
- Regisseur Milo Rau arbeitet im Stück erstmals mit Kindern. Anfangs war er nicht sicher, wie weit er gehen kann.
- Rau war es wichtig, zu unterscheiden: Wann wird gespielt und wann ist Realität? Und dass das Stück in einer Befreiung endet.
Der negative Mythos Dutroux
«Wer ist das?», fragt der Schauspieler Peter Seynaeve und hält ein Foto hoch. Die achtjährige Rachel antwortet ohne zu zögern: «Das ist Marc Dutroux, der Kindermörder». Den Fall kennt in Belgien jedes Kind. Dutroux sperrte seine Opfer im Keller ein, missbrauchte sie und stellte sie für Sex-Partys zur Verfügung. Vier Kinder hat er auch ermordet.
«Der Mann ist ein negativer Mythos», sagt Milo Rau. «Sein Leben berührt viele wichtige Punkte der belgischen Geschichte – vom Ende der Kolonialzeit bis heute. Es gab Ermittlungspannen, die darauf zurückzuführen sind, dass das Land in Regionen zerfällt. Der Staat hat versagt, die Bürger fühlten sich allein gelassen – und all das hat sich bei den neuen Anschlägen in Brüssel wiederholt.» Schon allein deshalb ist der Fall für Milo Rau ein gefundenes Fressen.
Die Grenze zwischen Spiel und Realität
Rau hat sich mit Reenactments politischer Morde und inszenierten Gerichtsprozessen einen Namen gemacht. Mit Kindern arbeitet er in «Five Easy Pieces» zum ersten Mal. Wie viel Gewalt können Achtjährige ertragen, ohne seelisch Schaden zu nehmen? Da war sich Milo Rau anfangs nicht sicher. «Ich habe relativ schnell gemerkt, dass man eine klare Linie ziehen muss. Man kann nicht drauflos improvisieren, sondern muss mit aufgeschriebenen Texten arbeiten. Es ist wichtig, dass die immer wissen: Jetzt spiele ich und jetzt spiele ich nicht.»
Das Stück beginnt mit einer Castingszene. Die Kinder treten eins nach dem anderen vor einen Regisseur und präsentieren ihre Fähigkeiten. Elle Liza kann singen, Pepijn spielt Keyboard, Maurice kann husten wie ein alter Mann. Der Regisseur, der von Peter Seynaeve gespielt wird, stellt Aufgaben. So wird alles, was im Stück geschieht, zum Spiel im Spiel, alles hat eine doppelte Bedeutung. Es geht nicht nur um den Fall Dutroux, sondern auch um den Prozess des Theatermachens.
«Theater ist wie ein Puppenspiel, nur dass keine Marionetten auf der Bühne sind, sondern echte Menschen.» Der Satz, von einem kleinen Jungen gesprochen, ist eine Kernaussage. In «Five Easy Pieces» ist es der Regisseur, der mit den jungen Akteuren spielt. Er benutzt sie, um von Dutroux zu erzählen – und geht dabei weit.
Er bittet die dunkelhäutige Elle Liza, Patrice Lumumba zu spielen und eine Rede zu halten, in der es um die Verbrechen der belgischen Kolonialzeit geht. Danach wird sie von den anderen Kindern gefesselt und geknebelt. Ein Junge richtet eine Pistole auf sie und drückt ab – eine Szene, die äusserst brutal wirkt. Doch die Kinder haben beim Spiel eindeutig Spass.
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Die Grausamkeit des Theaters und des Lebens
Der kleine Willem, der schon beim Casting erklärt hat, dass er später einmal Polizist werden möchte, strahlt über das ganze Gesicht, als ihm die Rolle des Kommissars übertragen wird. Maurice spielt den Vater von Marc Dutroux. Mit Grauhaarperücke und alt geschminktem Gesicht wirkt er wie ein Greis. Man staunt über die darstellerischen Leistungen der Kinder und über die Selbstverständlichkeit ihres Spiels – bis der Regisseur die kleine Rachel auffordert, sich auszuziehen. Sie soll über eine Vergewaltigung berichten, in einer Szene, die wirklich weh tut.
«Ich habe mich gefragt, wozu man auf der Bühne für den Voyeurismus der Zuschauer gezwungen wird?», erklärt Milo Rau. «Wie lässt sich diese Beziehung zwischen dem Regisseur und dem kindlichen Schauspieler so übersetzen, dass sie gleichzeitig die Geschichte von Dutroux erzählt?»
Das Mädchen kauert nur mit einer Unterhose bekleidet auf einer Matratze und liest einen Brief vor, den ein Opfer von Marc Dutroux geschrieben hat. Dann folgt ein Bruch. Die Kinder dürfen Szenen spielen, die sie immer schon spielen wollten.
«Mir war es wichtig, dass das Stück mit der Befreiung endet», erklärt Milo Rau. «Man hat diese Katharsis, man durchquert diese Grausamkeit des Theaters und des Lebens, um dann an einen Punkt zu kommen, wo man darauf zurückgucken kann und sagen kann: ‹Okay, das haben wir abgearbeitet›.» Dass das gelingt, ist ein kleines Theaterwunder: Am Ende der Aufführung fühlt man sich nicht niedergeschlagen, sondern leicht. Milo Rau eröffnet Räume, in denen selbst das Undenkbare möglich wird.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 4.7.2016, 17.22 Uhr.