Sie sind immer schon der Welt abhandengekommen, die Figuren aus dem Marthaler-Theater. Wie es im Lied von Gustav Mahler heisst:
«Ich bin gestorben dem Weltgewimmel / Und ruh' in einem stillen Gebiet / Ich leb' in mir und meinem Himmel, / In meinem Lieben, in meinem Lied.»
Das Lieben und das Lied: Es fällt auch in «Isoldes Abendbrot» wieder in eins – diesem wunderbaren Theaterabend von heiterster Melancholie, der im Grunde seines dramaturgischen Herzens ein Liederabend ist. Und eine Hommage an eine grosse Sängerin: an Anne Sofie von Otter, die schwedische Mezzosopranistin, die vor wenigen Tagen 60 geworden ist und der hier die gesangliche Hauptverantwortung zufällt.
Ohne deswegen die Leistung der ausgesprochen musikalischen Schauspieler-Sänger Raphael Clamer, Ueli Jäggi und Graham F. Valentine zu schmälern. Oder des fabelhaften Pianisten Bendix Dethleffsen. Letzterer ist erst noch kurzfristig für einen erkrankten Kollegen eingesprungen. Bei Aufführungen von Christoph Marthaler geht das nicht ohne weiteres, da ist alles Spiel und Partitur, in die auch die Musiker einbezogen sind – das will schon was heissen.
Eine musikalische Gegenwelt als Utopie
In den Marthaler-Abenden gibt es regelmässig den suggestiven Moment, in dem sich in den dumpfen Warteräumen ein Fenster auftut in eine andere Welt. Es ist gewöhnlich ein musikalisches Fenster, und es geht hinaus zur Utopie, in eine musikalische Gegenwelt zum hektischen, geschäftigen, nervösen Weltgewimmel. In «Isoldes Abendbrot» nun tut Christoph Marthaler sozusagen den Schritt durch dieses Fenster hindurch. Der Abend spielt ganz in dieser utopischen Welt auf der andern Fensterseite.
Wie sieht es hier aus? Auch wieder wie immer. Das Jenseits ist eine Bar. In schwerem dunklen Nussbaum, mit schweren dunklen Kunstlederfauteuils ausgestattet, mit einem künstlichen Kaminfeuer, hinter dem sich ein Harmonium verbirgt (auf der Bühne von Duri Bischoff). Anne Sofie von Otter ist die Bardame darin. Eine laszive Wucht mit Putzschwamm und giftgrünen Gummihandschuhen, sie schrubbt auch schon mal heftig das Mikrofon. Die Gesellschaft hier ist eher wehmütig eingestellt, durch und durch vom Verschwinden besessen.
Das Pathos und die Tücken des Alltags
Er sei eine Frohnatur, sagt einer von sich – aber schon ein wenig abgenutzt. Jedes Pathos erstirbt sofort in den Tücken des praktischen Alltags, dafür sorgen kostbare Kalauer und Marthaler-Slapstick mit quietschenden Fauteuils, qualmenden Klavierhockern oder herunterstürzenden Noten. Es gibt einen sprechenden Humidor mit feuchter Aussprache, es gibt eine äusserst gediegene Unterhosentheaterszene und überhaupt manche ironischen Marthaler-Selbstzitate. Vor allem aber gibt es Musik. Musik, die von der melancholischen Heimstatt in der Musik selbst spricht.
Und unversehens, bei Richard Wagners «Tristan»-Musik, scheint sich in dieser Welt jenseits des Fensters nochmal ein Fenster aufzutun, in nochmal eine andere Welt. Wie in einer Mise-en-abyme durchzuckt die Vision einer abermaligen Grenzüberschreitung die Figuren und reisst sie aus ihren Fauteuils, öffnet ihnen den Blick auf etwas Neues. Es kann sich dabei nur um den Tod handeln. Auch davon spricht die Musik.
Aber noch träumen sie den Traum vom Singen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 18.5.2015,17:10 Uhr.