Wyttenbach brauchte mehrere Anläufe mit Matters Libretto. Gelungen ist ihm die Vertonung nicht zuletzt wegen der Unterstützung der Intendantin des Gare du Nord in Basel, Desirée Meiser.
«Vor zwei Jahren stand Jürg plötzlich mit einem Plastiksack in der Bar des Gare du Nord. Er sagte: ‹Schau mal, ob das was ist›. In der Tüte war das Libretto, das Mani Matter 1972 geschrieben hat», erzählt Desirée Meiser bei einer Probe zu «Der Unfall».
Ein verfremdeter Opernschatz
Der Text: Hochdeutsch. Gedankenfetzen. Surreal, absurd. Ein Mann wird von einem Auto überfahren, weil er unachtsam über die Strasse geht. Unachtsam ist er, weil er denkt, warum er nicht Musiker geworden sei. Tragisch. Und doch äusserst komisch. Irrwitzig. Skurril.
Matter und Wyttenbach beabsichtigten, eine Madrigalkomödie auf die Bühne zu bringen. Sie wollten alle Elemente, die eine Oper beinhaltet, auseinanderpflücken, verfremden und neu zusammensetzen: Sprache, Handlung, Szene, Gestus, Gesang und Instrumentalbegleitung.
«Im ersten Moment wusste ich gar nicht, was ich in den Händen hielt. Als es mir dämmerte, rief ich Mark Sattler vom Lucerne Festival an. ‹Das ist ein Schatz!›, sagte er. Natürlich hatte er recht», sagt Desirée Meiser.
Das Werk ist vollbracht. Endlich.
Das Gare du Nord und das Lucerne Festival spannten zusammen und holten die Basler Madrigalisten an Bord. Jürg Wyttenbach: «Ich bin Desirée Meiser sehr dankbar, dass sie mich dann immer wieder stupfte, sonst hätte ich es vielleicht doch wieder bleiben lassen.»
Im Mai war es dann so weit. Desirée Meiser: «Jürg rief an und sagte: ‹Die Komposition ist fertig›. Ich nahm Gläser, Champagner und machte mich auf den Weg. Die Temperaturen waren frühlingshaft mild, also stiessen wir auf der Strasse auf die Vollendung des Werkes an.»
Meiser ist davon überzeugt, dass Wyttenbach erleichtert ist. Jetzt, wo er eine jahrzehntelange offene Rechnung beglichen hat. Wyttenbach wird im Dezember 80. Was für ein Geschenk. «Der Unfall» wird erst in Luzern, im Dezember dann im Gare du Nord in Basel zu sehen sein.
Für alle eine Gratwanderung
Desirée Meiser führt bei der Anti-Oper Regie. Entfalten, austoben kann und will sie sich aber nicht: «Wir haben uns für eine ‹ehrliche› Variante entschieden. Es ist ein kleines, feines Stück, das von dem lebt, was sich die beiden Freunde ausgedacht haben. Da muss und darf ich nicht mit grosser Kelle anrühren.»
Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung ist das Kammerspiel für die Basler Madrigalisten unter der Leitung von Raphael Immoos. Der Chor übernimmt den gesamten Part des Orchesters, auch die Ouvertüre. Immoos erklärt: «Dieses Stück ist eine Gratwanderung. Es ist keine Komposition, die man liest und entziffert. Es gibt viele Improvisationsteile, die nicht nur musikalisches, sondern auch schauspielerisches Talent erfordern.»
Singen, spielen, grotesk überzeichnen und das mit voller Überzeugung. Kein Zweifel, dies ist kein Kinderspiel. Immoos sagt über den Berner Troubadour: «Mani Matter wusste den Humor auf eine so feine Art und Weise zu setzen. Wir hoffen, wir werden ihm gerecht. Ich bin schliesslich mit seinen Liedern gross geworden. Ich weiss, was ich dem Meister schulde.»
Mani Matter bleibt unvergessen
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Und wie steht es mit Desirée Meiser, die in Deutschland aufwuchs und erst im Erwachsenenalter als Schauspielerin in die Schweiz kam? Meiser: «In Basel sang mir ein Nachbarsjunge immer ein Mani Matter-Lied vor, wenn ich den Blues hatte. Da ging’s mir schnell wieder besser. Aber ich hatte ja bereits mit 18 einen Schweizer Freund, der immerzu sagte: ‹Mani Matter war der Allergrösste›. Euer Volksheld ist mir also seit endlosen Jahren ein Begriff.»
43 Jahre nach Mani Matters Tod ist nun also eine neue Seite des «Värslischmids» zu entdecken. Dank Jürg Wyttenbach und allen, die ihn «stupften».