Am Schluss, kurz vor seiner Hinrichtung, hat Julien Sorel seinen grossen authentischen Moment. «Leer ist es in der Brust, im Himmel, überall …». Für Lukas Bärfuss ist eindeutig, was hier fehlt: die Liebe. So pastoral das klingen mag (Julien Sorel ist schliesslich ein Abbé, wenn auch kein ganz gewöhnlicher).
Wie Phantasmen jagt Julien im Schlussbild der Basler Inszenierung der Liebe nach, den Frauen, deren Lieben er vordem für seine Zwecke ausgenutzt hat, mit viel Kalkül, um seine Karriere voranzubringen.
Mit Kalkül nach oben
Julien Sorel ist der Inbegriff eines strategischen Karrieristen: keine Handlung, keine Beziehung ohne Hintergedanken.
Das muss einen politischen Schriftsteller wie Lukas Bärfuss faszinieren, geradeso wie die Geschichte vom Aufstieg von der Strasse in den gesellschaftlichen Olymp.
Aus der Sägerei in die Salons
Im Zentrum von «Le Rouge et le Noir» steht dieser ehrgeizige und smarte Julien Sorel. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, in einem Dorf in den Vogesen. Der Vater ist Brettsäger und verkauft ihn regelrecht an den Bürgermeister des Orts als Hauslehrer.
Und von da geht’s bergauf, bis in die schicksten Salons von Paris. Die Frauen lieben Julien, er nutzt es geschickt aus. Am Schluss landet er im Gefängnis, weil er auf die Frau des Bürgermeisters geschossen hat, die gegen ihn intrigiert, aus Rache. Aufstieg und Fall eines ehrgeizigen jungen Mannes.
Nah bei Stendhal, mit Bärfuss-Ton
Lukas Bärfuss bleibt in der Erzählung nah bei Stendhal, er strafft, gewichtet hier und da um, erfindet eine Figur neu oder gestaltet sie neu aus, bleibt aber im grossen Ganzen bei Stendhals Plot. Hauptsächlich bringt er einen eigenen Tonfall hinein, einen sehr trockenen, lakonischen und freundlich-sarkastischen Bärfuss-Ton.
Bärfuss hat einen herkömmlichen dramatischen Text geschrieben, also Dialoge, Szenen. Seine Deutungen thematisiert er nicht auf der Bühne, sondern legt sie in die Figuren und ihre Sprache. Bärfuss macht Stendhals Figuren tüchtig für eine neoliberale Marktwirtschaft von heute.
Noch weiter zurückversetzt
Die Basler Inszenierung macht dagegen ganz auf historisch, die Bühne ist ein Rokoko-Boudoir mit Blumentapeten, auch die Kostüme sind approximatives Louis XV, also: Ancien Régime, nochmal 50 Jahre hinter Stendhal zurück.
Und auch Nora Schlockers Inszenierung ist etwas altfränkisch, klassisches Erzähltheater, das vor allem am Anfang recht schwerfüssig ist, in der zweiten Hälfte aber deutlich Fahrt aufnimmt.
In so einem Rahmen liegt das Gewicht in erster Linie auf der Figurenzeichnung, und da steht vor allem der sehr junge, erst 25-jährige Schauspieler Vincent zur Linden im Vordergrund.
Er spielt Julien sehr spannungsvoll, differenziert, er zeigt eine Unbescholtenheit und zugleich Verschlagenheit, die die Figur sehr plastisch machen. Diese Figur wie aus einem Business-Ratgeber von heute.