Ferdinand von Schirach steht erleuchtet mitten auf der Bühne. Mit der Frage «Mögen Sie Regen?» beginnt sein neuer Monolog «Regen».
Für ihn, der chronisch an Depression leidet, ist das ein denkbar schöner Ort: Schon als Jugendlicher spielte er Theater im Internat. Daran erinnert sich der 59-Jährige gern. Aus reiner Freude steht er nun wieder auf der Bühne.
Selbstgespräche über das Leben
Der ehemalige Strafverteidiger spielt einen Laienrichter, der über einen Femizid urteilen muss. Doch der Fall rückt in den Hintergrund. Stattdessen denkt er über das eigene Leben nach, über die grosse Liebe, den eigenen Gedichtband und über die Auswüchse unserer Zeit.
Die Welt wird sehr klein, wenn sie dauernd urteilen. Es ist viel besser, die Welt wahrzunehmen und zu staunen.
Viele Teile dieses Monologs können auch genauso in Interviews mit von Schirach gelesen werden. «Natürlich hat diese Figur ein paar Spleens, die ich hoffentlich nicht habe, aber die Gedanken, die diese Figur hat, sind natürlich meine Gedanken – wir ähneln uns», meint der Autor im Gespräch.
Weniger urteilen, mehr wahrnehmen
Kein Wunder also, spricht die Figur über Themen, die von Schirach in all seinen Werken beschäftigen. Die Geliebte stirbt an einem Aneurysma, der Mann hört auf zu schreiben. Es geht um Schuld, Strafe und darum, dass man nicht unvoreingenommen urteilen kann.
Letzteres will der Autor nicht bloss als Moral sehen, sondern als Chance: «Wenn Sie ein bisschen älter sind, oder vor sich selbst zurücktreten können, dann merken Sie, dass Urteile über Menschen nicht sehr klug sind. Die Welt wird sehr klein, wenn sie dauernd urteilen. Es ist viel besser, die Welt wahrzunehmen und zu staunen.»
Von Spannungen und Ambivalenzen
Dass die Welt voller Ambivalenzen ist, findet auch der Mann in «Regen». Jahrtausende alte Werke wie das Parthenon in Athen könnten in unserem heutigen Umfeld nicht mehr entstehen.
Es gibt Dinge, bei denen es keine Ambivalenz mehr gibt. Nämlich immer dann, wenn das Menschsein selbst infrage gestellt wird
Dafür bestehe die Chance auf eine Gesellschaft, die wirklich frei ist. Spannungen, die diese Ambivalenzen mit sich bringen, müsse man aushalten, sinniert er weiter.
Vieles also, aber nicht alles ist ambivalent, meint von Schirach: «Es gibt Dinge, bei denen es keine Ambivalenz mehr gibt. Nämlich immer dann, wenn das Menschsein selbst infrage gestellt wird. Dann müssen Sie aufstehen und ihre Stimme dagegen erheben.» Das betreffe sowohl den Terror, als auch die Fanatiker oder jetzt gerade in diesem Moment überall auf der Welt den neuen, beziehungsweise alten Antisemitismus.
Vom Schriftsteller zum Schauspieler
Doch zurück zur einleitenden Frage: Ob man «Regen» möge. Vieles an der Aufführung ist beeindruckend: Allein schon die Anzahl an Menschen, die von Schirach mit seiner Aufführung anlockt: In Zürich waren es 1100 Besucherinnen und Besucher.
Oder, dass er einen rund eineinhalb Stunden langen Text – auch wenn es sein eigener ist – auswendig und ohne Fehler vortragen kann. Und auch, dass das von ihm als Nicht-Schauspieler getragen wird.
Abrechnung mit der Gegenwart
Einzig die Schimpftiraden über die moderne Zeit irritieren. Seien es Strandferien, Rucksäcke oder die Möglichkeit, Kunstwerke am Bildschirm zu betrachten: Nichts davon kommt gut weg.
Trotz lustiger Überspitzungen muss man sich dennoch fragen, wie das zum ambivalenten Weltbild passt. Als Mittel, um das Fremdsein in der heutigen Zeit auszudrücken, hat es aber durchaus seine Berechtigung.