Was bedeutet es heute, Mann zu sein? Die Frage wurde in den letzten Jahren häufig diskutiert. Oft war dabei von toxischer Männlichkeit die Rede, der Krise der Männlichkeit und nicht mehr zeitgemässen Rollenvorstellungen.
Die Frage nach Männlichkeit beschäftigt auch den Theaterautor Lucien Haug. «Ich nehme eine grosse Scham wahr, sich damit auseinanderzusetzen. Gleichzeitig glaube ich aber, dass viele Männer ein Bedürfnis haben, darüber zu sprechen.»
Das Leben als Mann
Er habe den Eindruck, dass sich seit seiner Jugend kaum etwas verändert hat in der Diskussion, sagt Lucien Haug. Es fehle die Befragung des männlichen Selbstbildes und eine klare Wahl, wie ein Mann sein Leben gestalten möchte.
Er habe in der Arbeit zum Stück herausgefunden, dass viele Männer ein Problem hätten, nur unter Männern zu sein. «Das finde ich traurig, weil es eine verpasste Chance ist, darüber nachzudenken, wie man diesen Teil der Identität leben möchte und wie man sich mit anderen männlich gelesenen Personen verbinden kann», sagt Haug.
Engelsflügel und Glitzertränen
Wie können Männer also aufeinander zugehen und über Gefühle sprechen? Wie können sie schwere, fröhliche, zärtliche Momente zusammen erleben? Darüber hat Lucien Haug das Theaterstück «My Heart Is Full of Na-Na-Na» geschrieben. Nun hat es Regisseurin Suna Gürler am Schauspielhaus Zürich inszeniert.
Im silbernen Einteiler, mit Engelsflügeln und Glitzertränen im Gesicht, tritt der Sänger Tearjerker (Maximilian Reichert) auf. Schweizweit berühmt wurde er für seinen verpatzten Auftritt am Eurovision Song Contest. Zero Points habe er mit «My Heart Is Full of Na-Na-Na» geholt.
Noch einen glühenden Fan
Seine besten Zeiten hat Tearjerker hinter sich. Das Selbstvertrauen hat er verloren und seine Merchandise-Artikel – eine Bettdecke und ein Kissen mit seinem Gesicht darauf – kosten nur noch 99.90. Einen glühenden Fan hat er noch – den 13-jährigen Billy (Finnigan Inan).
Billys Mutter ist vor nicht allzu langer Zeit bei einem Unfall gestorben. Nun lebt der Junge allein mit seinem Vater (Lukas Vögler). Dieser hat keine Arbeit mehr und versinkt in Depressionen.
Der Vater verletzt sich selbst. Statt über seine Trauer zu reden, versprüht er das Parfüm seiner Frau und hört Musik von damals. Billy kümmert sich um seinen Vater, kocht, verbindet ihm die Wunden und organisiert eine Psychologin.
Die emotionale Mauer bricht
Plötzlich landet Tearjerker auf dem Hausdach der Familie, in der keiner über Gefühle redet. Der Sänger bringt Bewegung in die verkorkste Vater-Sohn-Beziehung mit dem, was er am besten kann: Drama, völlig übertriebenen Emotionen und Musik. Er fragt nach Billys Gefühlen und übt mit ihm, diese zuzulassen. Sie zerdeppern Sachen auf der Bühne und performen dazu den ESC-Hit «Euphoria».
Auch den Vater lockt Tearjerker hinter seiner emotionalen Mauer hervor, so dass auch er seine verletzliche Seite zeigt und über Themen spricht, die er jahrelang verschwiegen hat.
Seifenoper-Potenzial
«My Heart Is Full of Na-Na-Na» ist ein Stück mit Seifenoper-Potenzial. Der Abend ist unterhaltsam – besonders wenn Tearjerker und Billy Emotionen üben und ESC-Songs performen.
Die Figuren bleiben recht typenhaft. Man wüsste gerne mehr über sie und ihre Beweggründe. Gelungen an der Inszenierung ist die Leichtigkeit und der Spass, mit denen Gefühle und Männlichkeit zusammengebracht werden.