Zuerst zu den Fällen: Bei der Compagnie Interface in Sitten und der Genfer Tanztruppe Alias stehen die Choreografen in der Kritik. Ihnen wird sexuelle Belästigung vorgeworfen. Bei Interface ist die Strafuntersuchung noch in Gange. Der Choreograf von Alias wurde bereits erstinstanzlich verurteilt. Weil er das Urteil weiterzog, ist es noch nicht rechtskräftig.
Auch im Umkreis des weltberühmten Béjart-Balletts in Lausanne kam ein inakzeptables Arbeitsklima ans Tageslicht und die Schule Rudra Béjart wurde geschlossen. Eine Untersuchung attestierte dem Béjart-Ballett ein impulsives, jähzornigen und beleidigendes Auftreten der Leitung gegenüber den Tänzerinnen und Tänzern.
«Es kam alles an die Oberfläche»
2021 war für Anne Papilloud Generalsekretärin der Westschweizer Gewerkschaft der Bühnenschaffenden ein besonderes: «In der Westschweizer Tanzszene war das vergangene Jahr ein Erdbeben.» In vielen Fällen seien die Probleme schon bekannt gewesen. «Bei Béjart gab es 2008 die ersten Schwierigkeiten. Aber letztes Jahr kam alles an die Oberfläche.»
Die Missstände blieben so lange unter der Oberfläche, weil es die wenigsten Tänzerinnen und Tänzer wagten, sich zu wehren. Auch weil sie finanziell in prekären Verhältnissen leben und auf Gedeih und Verderb den Leitern ausgeliefert sind. Im Falle von Alias etwa war die Tanztruppe nach den Vorwürfen buchstäblich verschwunden.
Mauer des Schweigens
Nun aber brach die Mauer des Schweigens. Deshalb sei eine Anlaufstelle eingerichtet worden, damit sich Künstlerinnen und Künstler an jemanden wenden könnten, sagt Gewerkschafterin Anne Papilloud.
Man habe die Anlaufstelle ins Leben gerufen, weil viele Kulturschaffende keine Personaldienste zur Verfügung haben und auch keine Vertrauensperson im Unternehmen, wie es vorgeschrieben wäre. «Sie können sich an niemanden wenden.»
Die Anlaufstelle namens Safe Spaces Culture wird nicht von der Bühnengewerkschaft betrieben, sondern von der Clinique du Travail, einem auf Arbeitsrecht und die psychologische Betreuung spezialisierten Büro in Morges.
Fünf Fälle in drei Monaten
Die Opfer werden anonym empfangen. Auch die Bühnengewerkschaft hat keine Einsicht in die Dossiers. Die Personen werden umfassend beraten. «Ganz im Gegensatz zu den Anfängen der #MeToo-Bewegung, als den Opfern fast nur der Gang an die Öffentlichkeit blieb», sagt Julie Zumbühl von der Clinique du Travail.
In den Medien Anklage zu erheben, löse die Probleme nicht, sagt Zumbühl. Man kläre die Gesundheit der Personen ab und berate sie über mögliche Massnahmen. «Das kann so weit gehen, dass bei der Polizei Anzeige eingereicht wird. Die Betroffenen entscheiden aber selbst, ob sie das wollen. »
Die Anlaufstelle wird gebraucht: Erst vor drei Monaten nahm sie den Betrieb auf. Inzwischen sind schon fünf Dossiers eröffnet worden.