«Ich bin ein Scharlatan. Ich bin ein Wesen ohne Talent. Ich bin ein Mann mit Logik und ohne Vorurteile, und ich bin ein Charmeur. Und ein Mäzen. Ich habe alles, was man dazu braucht, ausser Geld. Aber das findet sich.»
Nun – es fand sich. Zwar mit zum Teil immensen Schwierigkeiten, und das mitnichten nur am Anfang, als dieser Provinzfürst Sergej Diaghilew noch misstrauisch beäugt und alles andere als anerkannt, geschweige denn berühmt war; Skeptiker galt es umzustimmen, Geldgeber galt es zu finden, und ein gewisses heruntergekommenes Theater, in dem Eltern mit ihren Kindern schäbige Komödien hinter sich brachten, galt es zum Tagesgespräch zu machen, es teuerst zu renovieren und mit allen möglichen Mitteln in nie gekanntem Glanz erstrahlen zu lassen – es fand sich, das Geld, um dieses Theater, das «Théatre du Chatelet» zu restaurieren, es zum Mittelpunkt der Stadt zu machen, und um die Tänzer zu bezahlen; jenes Geld fand sich, das so wichtig war, um das Beste zu bekommen und das Beste zu geben, um einen Traum zu verwirklichen, nämlich da berühmt zu werden, wo das Leben schlechthin spielte: im neuen Babylon, neuen Rom, neuen Athen, dem Ozean menschlicher Möglichkeiten, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, dem unumstrittenen Mittelpunkt des Wissens, der Kunst, der Mode – in Paris.
Paris, Paris und nochmals Paris
Wie keine zweite europäische Hauptstadt ein Laboratorium der Modeme, Weltstadt – unvergleichlich. Ein Mythos, gerade zur Wende zum 20. Jahrhundert. Dahin wollte er, und es ist ihm gelungen – jenem Herrn mit seiner unnachahmlichen Mischung aus Understatement, Nüchternheit und Noblesse: Sergej Diaghilew.
Er hat ein untrügliches Gespür für die Zeichen der Zeit, vor allem die der Zukunft; er ist es, der seine «Ballets Russes» zur Legende macht. Er ist der Chef, die treibende Kraft schlechthin. Dompteur. Katalysator. Nur er kann die unterschiedlichsten Künstler zusammenbringen; unter seiner alleinigen Federführung ist seine Truppe das weltweit erfolgreichste Unternehmen einer Synthese von Musik, Malerei und Tanz.
«Le massacre du printemps»
Die legendären Tänzer Nijinsky, Massine und Balanchine arbeiten für und mit ihm, Komponisten wie Debussy, Satie und vor allem Strawinsky, Maler wie Leon Bakst oder Pablo Picasso. 20 Jahre lang schreiben die «Ballets Russes» Geschichte, faszinieren die Menschen auf nie gekannte Weise und sorgen für die grössten Skandale der Musikgeschichte. Den Skandal um «sacre du printernps» von Igor
Strawinsky etwa, bei dem die Leute nicht mehr vom «sacre», sondern vom «massacre du printemps» sprechen, bei dem sie lachen, höhnen, pfeifen, bei dem sie schlicht verzweifelt und überfordert sind, bei dem sich die faszinierten und die beleidigten Herrschaften gegenseitig zerfleischen, bei dem der allgemeine
Tumult in Handgemenge, Pöbeleien und Raufereien ausartet, bei dem wohl situierte Damen und Herren der Gesellschaft mit hochroten Köpfen hemmungslos schreien und ihre Nachbarn ohrfeigen.
Was für ein Premierenerfolg am 29. Mai 1913. Über Nacht hat er es geschafft: Diaghilew ist mit seinem Komponisten Strawinsky zum Gesprächsthema Nummer eins geworden.
Die Diaghilews - eine illustre Familie
Die Diaghilews gehören zum minderen russischen Provinzadel. Sergejs Ururgrossvater Wassilij ist ein «Conseiller titulaire», das ist der neunte von insgesamt 14 Rängen, die man im Staatsdienst kennt. Sein Sohn hat bereits den achten Rang erreicht («Assesseur de college»), und dessen Sohn wiederum, Sergejs Grossvater, schafft dann sogar zwei Stufen auf den 6. Rang, «Conseiller de college»; er hat 48 Leibeigene und 6000 Hektar Land in der Provinz Nowgorod, 100 Kilometer südlich von Petersburg. Und man verleiht ihm das Wodkamonopol für diese Provinz, das heisst: Er kann seinen Wohlstand noch beträchtlich steigern.
Der Enkel Sergej kommt 1872 zur Welt; in dieser Gegend wächst er auf, in einem herrschaftlichen Haus der Gebietshauptstadt Perm mit gut 200'000 Einwohnern. Perm ist übrigens das Vorbild für die langweilige Provinzhauptstadt in den «Drei Schwestern» von Tschechow. Sergej bekommt alles: eine ruhige, beschauliche Kindheit, eine hervorragende Bildung und Zugang zu den besten Kreisen. Denn man verkehrt in diesem Haus; es ist das Zentrum der künstlerischen Aktivitäten der Stadt; hier empfangen zu werden, ist höchst ehrenvoll.
Der junge Sergej nimmt das unschätzbare Angebot an, kann bald fliessend Deutsch und Französisch, malt ein bisschen und beschäftigt sich mit Literatur, lernt Mussorgski und Tschaikowski kennen, spielt Klavier und nimmt sogar Kompositionsunterricht, schwärmt für Wagner und verehrt Puschkin, ist oft im Petersburger Marinskytheater – und schart einen erlesenen Freundeskreis um sich, nachdenkliche, reiche und kunstinteressierte Jünglinge. Der Maler Alexander Benois gehört dazu, oder Leon Rosenberg, der später unter dem Namen seines Grossvaters Bakst berühmt werden soll und eine wesentliche Rolle als Bühnenmaler der «Ballets Russes» spielt.
Die Freunde – man kann es sich leisten – machen Bildungsreisen: nach Venedig, Florenz und Rom, nach Berlin, nach Wien. Und nach Paris. Diese Metropole der Eleganz und der feinen Lebensart ist es, die Diaghilew um jeden Preis erobern will.
Gesangsstunden, Jura und Ausstellungen
Vorerst aber ist es noch nicht soweit, zu den feinen Pariser Kreisen hat Diaghilew noch keinen Zutritt; erst über Umwege soll ihm das gelingen. Er beginnt halbherzig
ein Jurastudium in St. Petersburg und widmet sich viel lieber der Kunst, nimmt
Gesangsstunden und bei Nikolai Rimski-Korsakow Kompositionsunterricht, geht
ständig in die Oper, versucht sich langsam bei der Zarenfamilie bekannt zu machen, und weiss überhaupt nicht, wie seine Zukunft aussehen soll. Sein Juraexamen macht er zwar, liebäugelt aber damit, vielleicht ein grosser Musiker zu werden. Dieser Traum findet jedoch recht schnell ein Ende, als ihn sein Lehrer Rimski-Korsakow wissen lässt, dass er zu dieser Arbeit nun wirklich kein Talent habe.
Diaghilew gibt die Musik auf – und entdeckt eine Leidenschaft für die bildende Kunst; ein Gebiet, auf dem er bisher noch keine Ahnung hat. 1897, mit 25 Jahren, macht er seine erste Ausstellung: englische und deutsche Aquarelle. Sein erstes Ziel hat er gefunden. Dieses Ziel ist aber nicht nur, Leute zusammenzubringen und zu organisieren – er will den Gang der Handlung und den Lauf der Geschichte selber bestimmen.
Die Kunst erneuern – egal welche
Der Freundeskreis um Diaghilew hat sich Grosses vorgenommen: die russische Kunst zu erneuern, weg vom Realismus zu kommen und den Anschluss an die westliche Moderne zu finden. Diaghilew organisiert Ausstellungen und (seine Verbindungen zu den entsprechenden Leuten hat er längst) zeigt Bilder von Cézanne und Degas, van Gogh, Matisse, Monet, Renoir. Er gründet eine Zeitschrift, die bald überall bekannt sein wird und in der er regelmässig die neuesten Bilder reproduziert: die «Welt der Kunst» («Mir Iskusstwa»).
Lange existiert diese Zeitschrift nicht: Im Jahr 1904 ist es mit ihr vorbei. Denn Diaghilew will zum einen alles andere als in Routine absinken, wie das später überhaupt sein Markenzeichen werden soll, und zum anderen hat er sein Ziel erreicht: den Anschluss der russischen Kunst und des russischen Publikums an die westliche Moderne.
Diaghilews Kunst und der «blutige Sonntag»
Die «Mir Iskusstwa» soll allerdings nicht eingestellt werden ohne einen letzten grossen Höhepunkt: eine gigantische Ausstellung historischer Portraits. Um die zusammenzutragen, war Diaghilew kreuz und quer durch das Land gereist und in den Salons der grösseren und kleineren Adelshäuser fündig geworden. 3000 alte Portraits, darunter viele vollkommen unbekannte Meisterwerke hat er schliesslich zusammen und präsentiert sie in St. Petersburg einem hingerissenen Publikum. Einem verunsicherten Publikum auch, das sich geradezu inbrünstig auf die alten Bilder stürzt, auf eine vergangene Welt.
Es passiert viel in jenen Tagen, der «kleine Krieg gegen den japanischen Zwerg», wie man das offiziell nennt, löst die erste russische Revolution aus. Lebensmittelknappheit im ganzen Land, Streiks, Protestmärsche.
Am 22. Januar 1905 missachten die Arbeiter die Bannmeile um die Innenstadt und marschieren zum Winterpalais. Dieser Tag geht als «blutiger Sonntag» in die Geschichte ein, als die kaiserliche Garde wahllos in die hungrige, meuternde Menge schiesst. Mehr als 1000 Menschen sterben und die Proteste weiten sich auf das ganze Land aus. Die verwöhnte Petersburger Aristokratie ficht das nicht an. Es ist bezeichnend, dass Diaghilew zwar ein feines Gespür für die Zeitläufte hat, dass ihn aber die politischen Dinge um ihn herum nicht sonderlich interessieren.
Strassenkampf oder die Annehmlichkeiten des Lebens
Und nicht nur ihn nicht: Der Maler Alexander Benois lässt sich an jenem «blutigen Sonntag» mit dem Schlitten in die Stadt fahren, um zu sehen, was denn da eigentlich los sei mit diesen unzufriedenen Arbeitern. Im Januar beginnt die Revolution, im Mai vernichtet Japan Russlands Ostseeflotte, im Oktober ist der Zar gezwungen, dem Land die erste Verfassung zu geben.
Und mitten in dieser Zeit, im Februar 1905, öffnet mit sensationellem Erfolg die Ausstellung der historischen Portraits, die nichts weniger als ein Resumée der russischen Monarchiegeschichte ist. Diaghilew gibt ihr übrigens die einfühlsamen Worte mit: «Auf dass der bevorstehende Kampf nicht die Annehmlichkeiten des Lebens zerstören möge».
Auf in den Westen, auf nach Paris!
Nach diesem Resumée bricht Diaghilew wieder zu neuen Ufern auf. Er wendet den
Blick nach Westen. So wie er vorher mit seiner «Mir Iskusstwa» westliche Kunst nach Russland geholt hatte, so will er jetzt die Wunder der russischen Kunst im Ausland zeigen, das heisst: in Paris.
Beim Pariser Herbstsalon 1906 präsentiert er die besten russischen Maler, alte und neue. Und für das nächste Jahr beschliesst er, russische Musik im Westen zu zeigen und in Paris vier Konzerte zu veranstalten. Die besten der besten will er dafür: den berühmten Sänger Schaljapin und die nicht minder berühmte
Sopranistin Felia Litwin, die Komponisten Rimski-Korsakow, Balakirew und Borodin,
Glasunow und Mussorgsky.
Diese Konzerte im Jahr 1907 sind ein voller Erfolg, und Diaghilew nimmt sich vor, in der nächsten Saison keine Orchestermusik mehr, sondern russische Opern in Paris vorzustellen: «Schneeflöckchen» von Rimski-Korsakow und «Boris Godunow» von Modest Mussorgski. Und Diaghilew plant weiter: für die Saison 1909 will er etwas auf den ersten Blick vollkommen Verrücktes schaffen: er will noch einmal Oper, aber auch russisches Ballett nach Paris bringen.
Ballett? Lächerlich!
Ballett ist um die Jahrhundertwende so gut wie ausgestorben im Westen, es gilt als hochgradig lächerlich. Und die Ankündigung, dass im russischen Ballett auch Männer auf der Bühne tanzen, erscheint den meisten als so absurd wie auch reizvoll. Nach den russischen Konzerten und Opern der letzten Jahre ist man aufs Höchste gespannt.
Sergej Diaghilew hat die Leute, die das Publikum in wahre Begeisterungsstürme ausbrechen lassen, der Erfolg der vom Marinsky-Theater ausgeliehenen Tänzer ist unbeschreiblich. Als Choreograph hat Diaghilew den jungen Michail Fokine gewonnen, einen Schüler des grossen Tanzmeisters Petipa, der etwas Neues und Unerwartetes macht. Höchste technische Perfektion hat man erwartet, eben jenen vollkommen lebensfernen und oft süsslichen Tanzstil der kaiserlichen Ballette am Marinsky-Theater in St. Petersburg.
Ein Ballett, das man so noch nie gesehen hat
Aber Fokine ist vor einigen Jahren schon bekehrt worden, und zwar von der Amerikanerin Isadora Duncan, die mit ihrem individuellen freien Stil, barfuss und mit wallenden Gewändern bereits Deutschland erobert hatte und jetzt auch einige junge Rebellen am Marinsky-Theater infiziert.
Fokine also verbannt die spektakulären hohlen Pirouetten. Er setzt auf asymmetrische Gruppierungen, auf natürliche Bewegungen, auf eine neue Poesie. Er entwickelt statt leerer Schrittkombinationen neue Bewegungsformen, die zur jeweiligen Musik passen – der Tanz umfasst erstmals den ganzen Körper, erstmals erlebt man im Westen einen reinen, vollkommen entschlackten Tanz.
Kunst statt Künstlichkeit
Dargeboten von den besten Tänzern. Und die besten der besten sind Anna Pawlowa und Vaslaw Nijinskij. Die «russische Saison» im aufwendig renovierten «Théatre du Chatelet» ist ein Triumph. Für das nächste Jahr plant Diaghilew neue Sensationen. Eine davon ist die «Scheherazade», die Geschichte von der Prinzessin, die, um ihr Leben nicht zu verlieren, dem Sultan Geschichten erzählt. Musik von Nikolai Rimski-Korsakow, Choreographie von Michail Fokine, Ausstattung und Bühnenbild von Leon Bakst.
Das Publikum erlebt dieses Zusammenspiel als Offenbarung. Das Ballett ist ein Einakter. Das heisst, man braucht nur einen Hintergrundprospekt, vor dem die Aktion stattfinden kann, die Bühne bleibt frei für die Entfaltung des Tanzes. Leon Bakst hat auf jeden Realismus verzichtet und das Thema in flüchtigen, hingeworfenen Skizzen nur angedeutet, nur eine betont unwirkliche Stimmung heraufbeschworen. Und diese schwüle, so exotische wie erotische Stimmung verzaubert das Publikum und verwirrt die Kritiker. In der Zeitung heisst es: «Wir bemühen uns um Realismus, die Russen wollen interpretieren!»
Das gelebte Gesamtkunstwerk
Es beginnt sich etwas zu verändern: War Alexander Benois in seiner Malerei und Bühnenausstattung noch romantisch bis volkstümlich, präsentiert Leon Bakst nun
einen einzigen Farbenrausch in Rot und Gold. Man ist davon so hingerissen wie
verstört: Das lenke doch vom Tanz ab und degradiere die Tänzer zu kleinen
Farbtupfern – und doch passt alles auf wunderbare Weise zusammen. Fokine hat in seiner Choreographie die Bewegungen der Farben im Hintergrund aufgenommen wie auch die Bewegungen der Musik von Rimski-Korsakow.
Vaslaw Nijinskij ist der unbestrittene Star der Aufführungen; das Pariser Publikum beginnt ihn zu vergöttern, man kleidet sich sogar wie er. Dann kommt das zweite Ballett der Saison, der «Feuervogel» von Igor Strawinsky. Mit diesem Stück steigt Nijinskij endgültig zum Gott des Tanzes auf, und auch Strawinsky wird über Nacht von einem unbekannten jungen Russen zu einer Berühmtheit.
Später dann kommt der Skandal des «sacre du printemps», es kommen weitere Skandale. Der Reiz des Neuen ist wie ein Taumel für Diaghilew und seine Truppe, und der Drang nach Erneuerung ist wie ein Zeichen von Diaghilews Heimatlosigkeit (nach dem 1. Weltkrieg bleibt er in Paris). Die Geschichte der «Ballets Russes» ist wie kein anderes Phänomen ein Spiegelbild der Zeitläufte im frühen 20. Jahrhundert.
Nach dem barocken Ideal des Gesamtkunstwerks «höfisches Leben» mit Architektur, Sprache, Musik, Mimik und Gestik; nach der Aufsplitterung der Einzelkünste, der Absonderung voneinander in der Klassik und der Suche nach neuer Integration in der Romantik hat Diaghilew versucht, im Spiegel des frühen 20. Jahrhunderts, als Weltreiche zerbrechen und nicht nur die Kunst in Fragmente zerfällt, an der Idee des Gesamtkunstwerks festzuhalten. Sie zu beschwören. Und diese Idee wenn nicht als Produkt, so doch als Strategie und Prozess zu zeigen.
Vor ihm hat das so niemand versucht, nach ihm ist es nie wieder so gelungen. Am 19. August 1929 stirbt Diaghilew in Venedig. Seine «Ballets Russes» überleben ihren Schöpfer nicht um einen Tag.