Das Wichtigste in Kürze
- Der Tanz Cancan hiess anfangs Le Chahut – französisch für Krach, Aufruhr, Spektaktel. Der Tanz war ein Zeichen des Ausbruchs, der Freiheit.
- Der Tanz, der in Paris seinen Ursprung hat, wurde von der Obrigkeit als «öffentliches Ärgernis» bezeichnet und verboten. Viele Tänzerinnen mussten mit Gefängnisstrafen büssen.
- Einst revolutionär, ist auch der Cancan Opfer der Kommerzialisierung geworden. Viele Touristen bestaunen beispielsweise im Moulin Rouge hübsche Frauen, die Cancan tanzen.
Montag, Donnerstag und Sonntag war Tanztag in Paris. Wer Geld hatte, blieb in der Stadt. Wer keines hatte, musste bis zu den Stadtmauern hinauslaufen – dort, wo der Wein billig war und ein paar Musiker zum Tanz aufspielten.
Zu Quadrillen und Polkas hüpfte man herum, in zwei Reihen standen sich Männer und Frauen gegenüber. Die Schritte waren festgelegt, der Ablauf der Tänze ebenfalls – der Maître de danse hatte alles im Griff.
Die Geburtsstunde des Cancan
Doch eines Abends, während der Pastourelle, stürzt sich ein Tänzer nach vorne und legt – gänzlich ausser Plan – ein kurzes, improvisiertes Solo aufs Parkett. Ein paar Takte sind es nur, die er für seinen Ausbruch nutzt. Dann stellt er sich wieder zurück in die Reihe und tanzt mit den andern weiter – comme il faut.
Dieser kurze Moment ist sozusagen die Geburtsstunde des Cancan, der in seinen Anfängen noch Le Chahut hiess. Le Chahut: der Krach, der Aufruhr, das Spektakel.
Ein verbotener Tanz
1829 dann, wieder an einem Tanzabend in der Vorstadt, ist es eine Frau, die sich diesen Moment der Improvisation, der Freiheit und des Ausbruchs greift.
Hat bei den Männern und ihrem Chahut die Obrigkeit lediglich die Stirn gerunzelt und abwartend beobachtet, so wird sie jetzt aktiv: Fortan ist es verboten, den Cancan zu tanzen. Ja, es ist sogar verboten, überhaupt diesen Namen auszusprechen.
Wer es trotzdem tut, wird verhaftet. Denn gemäss Code civile 330 ist dieser Tanz «ein öffentliches Ärgernis und wird mit Gefängnis von drei Monaten bis zu zwei Jahren bestraft oder aber mit einer Busse von 500 bis 15 000 Francs». Natürlich hat keine der verhafteten Tänzerinnen, Dienstmädchen, Wäscherinnen, arbeitslosen Mädchen vom Land annähernd so viel Geld. Sie müssen die Strafe absitzen. Nicht alle überleben die Haft.
Auf den Spuren des Cancan
Weil die Pariser Polizei mit Härte, aber auch mit Akribie dabei vorgegangen ist, hat sie auch jeden ihrer Schritte dokumentiert, die Verhaftungen, die Prozesse, die Gerichtsurteile, geordnet und später archiviert.
Da fängt die Arbeit der Cancan-Forscherin Nadège Maruta an. Monatelang sitzt sie in den Polizei-, Bezirks- und Stadt-Archiven und wühlt sich durch riesige Mengen von altem Papier hindurch. Aufgrund ihrer Ergebnisse stellt sie fest, dass es im 19. Jahrhundert vier Perioden dieses Cancan gab.
Geschichte des Cancan – vom Tabubruch zur Kommerzialisierung
Die erste, in den 1830er-Jahren, als das Tabu gebrochen wurde und erst Männer und später auch Frauen frei und wild tanzten.
Die zweite Periode beginnt Ende der 1850er-Jahre und mit ihr beginnt die Feminisierung des Cancan. Zum ersten Mal zeigen Frauen Bein. «Ihre Befreiung» – so Nadège Maruta – «beginnt mit der Befreiung der Beine.»
In der dritten Periode, die 1883 beginnt, wird der Cancan professionalisiert, die Tänzerinnen heben nicht nur das Bein sondern auch den Rock. Sie erfinden Bewegungen, mit denen sie Kirche, Hof und Bourgeoisie verlachen und scheuen sich nicht davor, dem Publikum den Hintern hinzustrecken – nachdem sie erst den Rock über den Kopf gezogen haben notabene. Und: Zum ersten (vielleicht zum einzigen?) Mal verdienen die Tänzerinnen mehr als die wenigen professionellen Cancan-Tänzer, die es auch noch gibt. So oder so: die Welt steht Kopf!
In die vierte Periode schliesslich fällt auch die Eröffnung des Moulin Rouge. Jetzt findet der Tanz auf der Bühne statt, in Gruppen und zweimal abendlich tanzen schöne Mädchen mit wenig Kleidung vor gut betuchten Touristen.
Die Professionalisierung führt zur Kommerzialisierung. Die wiederum funktioniert nur über Gleichschaltung, Massenproduktion und ein Stück weit auch über Sinnentleerung. Leider.
Entgegen der heiligen Ordnung
Was war einst so schlimm an diesem Tanz, dass man ihn als den kleinen Bruder der französischen Revolution bezeichnete?
Er war ein frontaler Angriff auf die heilige Ordnung der Geschlechter: Frauen entdecken ihre Beine, gehen eigene Schritte, tanzen ohne männliche Führung – was ebenfalls verboten war. Mehr noch: Mit Schritten und Figuren wie «La Cathédrale», «Le Fusil» oder «Le Coup de Cul» werden sie auch zu Systemkritikerinnen – und das setzt doch Denken voraus. Und das ist das allerschlimmste!
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Passage, 16.12.2016, 20.00 Uhr.